„Wo ist Lu?“

„Wo ist Lu?“

„Wo ist Lu?“, schreit das Nachbarkind bei heiß ersehntem strahlenden Sonnenschein atemlos durch unseren Garten. Meine Töchter haben sich Verstärkung zum Spielen geholt und laufen nun zu dritt wild aufgescheucht im Sommerkleidchen durch die lauwarme Frühlingsluft. „Wo ist Lu???“, schreit es noch mal. Worauf hin meine Tochter mit einem breiten und siegreichen Grinsen schreit „Lu gibt’s nicht!“… „Was?!“, mische ich mich ein, „Wieso gibts kein Lu? Ihr braucht doch auch mal Pause! Niemand kann so lange durchrennen und ständig Angst haben gefangen zu werden.“ – Nachdem ich meinen Satz zu Ende gefasst habe, spüre ich wie authentisch und unauthentisch zugleich dieser Satz aus mir heraus kam.

Ja, ich glaube zutiefst an das, was ich das gesagt habe, und gleichzeitig kam es wie ein kalter Schauer über mich: „Wann hab ich eigentlich heute schon mal Pause gemacht? Wann habe ich eigentlich an diesem Wochenende schon mal Pause gemacht? Wann habe ich eigentlich seit letzte Woche schon mal Pause gemacht?… Wo ist mein Lu? – Da stehe ich nun: „Laufhose, langes T-Shirt mit Flecken aus frischer Gartenerde, zu große Fleecejacke von meinem Mann übergeworfen – zu mehr hat es heute morgen nicht gereicht. Ich habe die einzige Möglichkeit der Woche genutzt, um auszuschlafen. In der Hoffnung ein wenig Energie nachtanken zu können, die ich gerade jetzt wieder so sehr vermisse… „Eine Kruks!“, schießt es mir in den Kopf. Ich liege eine Stunde länger im Bett, nur um die Aufgaben des Sonntags (!) dann in einer Stunde weniger Zeit zu erledigen. Seit dem Home Office, Home Schooling, Wechselunterricht und Kindergartennotbetreuung putze ich sonntags das Haus, während mein Mann das Essen kocht… Danach wartet der Garten, die Sachen im Haus, die es zu reparieren gilt und zu denen man in der Woche nicht kommt.

Ich bin den ganzen Morgen gesprungen in meinen Rollen: Frauchen des Familienhundes, Mutter, Ehefrau, Putzfrau, man nennt es jetzt Facilitymanagerin, was es gerade auch nicht besser macht, Gärtnerin, Kellnerin. Ich stelle meine Gießkanne aus der Hand, setze mich für kurze Zeit in die warme Frühlingssonne und schaue den drei Kindern in meinem Garten weiter zu, die sich immer noch nicht einigen können, ob es nun ein Lu geben solle. „Wenns nach mir geht, könnte Lu überall verteilt im Garten sein: Bei der Feuerstelle, am Gartentor, am Gemüsebeet, auf der Terrasse, am Apfelbaum…“ spüre ich in mir einen deutlichen Impuls. „Wow, wie gut ich darin bin diesen Impuls in mir für mich selber jedes mal aufs Neue zu übergehen!?“, schmunzel ich leise. „Immerhin schmunzel ich noch!“, grinse ich nun deutlicher.

Ich merke, dass ich in diesen Tagen deutlich an diesen Punkt komme. Dieser Punkt lässt das Verhältnis von Aktionismus und Ruhe in mir kippen. Ich kenne meine Art, mein Temprament mich immer ein wenig mehr dem Aktionismus zugehörig zu fühlen, aber dieses Ungleichgewicht ist irgendwann in einer Schieflage, die mich zum Kippen bringt und gerade jetzt in diesem Moment wird mir bewusst, dass die Haut dünn wird, dass meine Energie sich jetzt verschieben muss und zwar nicht in mehr, weiter, schöner, passender, sondern hin zu meinem Lu: Zu Raum für mich und meinen inneren Prozess.

Es gibt Momente, wenn ich beispielsweise alleine mit unserem Hund am ruhigen Sonntagmorgen spazieren gehe, in denen ich ganz bei mir sein kann und in denen ich auftanke und mein Lu ausdehne. Die frische, noch leicht feuchte Frühlingsluft zu riechen, die Ruhe über Wiesen und Felder zu hören, keine andere Menschenseele zu sehen…

„Schließt es sich eigentlich aus, beides gleichzeitig zu leben?“, frage ich mich „Lu und Aktion – Oder gibt es nur entweder oder?!“ Vielleicht ist der innere Anspruch der Dreh- und Angelpunkt, oder zumindest meiner! Denn alles, was ich ohne strikte Absicht tue, verlangt mir auch kein bestimmtes Ziel ab und lässt mich somit freier agieren… Denn wenn für mich die einzige Möglichkeit ist wegzurennen, mich nicht fangen zu lassen und ich nur das als mein erklärtes Ziel nehme, dann kann ich bis zur letzten Erschöpfung nur laufen und habe zwangsläufig immer an dem Punkt verloren, an dem ich physisch oder psychisch nicht mehr kann. Ich zögere mein Verlieren also nur zeitlich heraus und habe während des Spiels nicht mal die Chance mich wahrhaftig und bewusst umzuschauen. Mir entgeht alles, weil ich nur renne, entkommen will und durch die Welt haste. Wie genussvoll, lebendig und selbstverbunden das Leben im Lu ist – Für eine kurze Zeit, bis ich mich entschließe wieder eine kurze Runde zu rennen, bis ich mein nächstes Lu finde, das mich zum Innehalten einlädt und mir einen Raum gibt mein Leben bewusster wahrzunehmen. Mit diesem Wissen nehme ich mir für den Sonntagmorgen wieder einen Spaziergang vor, ganz für mich alleine in der frischen und immer wärmer werdenden Frühlingsluft…

Wo ist dein Lu – gerade hier und jetzt?

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