Patronusmoment

Patronusmoment

Ich halte meine Augen weit auf und spüre, wie sie anfangen leicht zu brennen und sich mit Tränen zu füllen. Ich schlucke meine Berührtheit runter… Ein dicker Kloß, gespickt mit Traurigkeit, Angst, Sorge und Verzweiflung… Ein bisschen meins, ein bisschen von all dem, was von Außen kommt…

… Ich sitze im Theater “Harry Potter und das verwunschene Kind”… Das erste Mal seit Jahren, dass ich alleine mit meiner Tochter unterwegs bin. Ihr Geburtstagsgeschenk… “Sie ist ja so schrecklich schnell groß geworden, meine Kleine!”

Professor Dumbledore… Schon in den Büchern und Filmen für mich so wirklich, echt und tief und jetzt hier scheinbar so lebendig und greifbar auf der Bühne.  “Das Leiden gehört zum Menschsein dazu. Es gibt kein Glück ohne Leid.” – “Oh ja!”, schreie ich innerlich “Ich weiß das!”  Und dann blinzle ich zu meiner Tochter rüber die leicht genervt von dem langweiligen Gerede auf der Bühne, die Augen verdreht. Ich schmunzle leicht… “Ich weiß es so gut, dass dieses Gefühl von Leid so wichtig ist und dass es nichts ist, was ich meinen Kindern vorenthalten kann, darf oder muss. Ohne Leid kein Glück – und doch will ich, dass sie möglich ohne viel Leid zu erfahren glücklich werden in ihrem Leben… 

Und dennoch steht ein heroisch, tapferer Teil in mir jeden Morgen auf und versucht all das Leid von meinen Kindern abzuwenden, das diese Erde so zu bieten hat: Mobbing unter Schülern, das Gefühl der eigenen Inkompetenz in der Schule, Mobbing wegen der falschen Kleidung, der falschen Musik, der falschen Figur, der falschen Frisur… Alles im Überblick halten und bloß alles irgendwie kontrollieren…

Ich lusche nochmal zu ihr rüber und spüre meine endlose Liebe und diese immense Kraft, die ich bereit bin aufzuwenden, damit diesem Kind kein Leid widerfährt und doch spüre ich in diesem Moment in Mitten von über 1000 Menschen, dass ich es niemals schaffen werde. Ich werde kläglich scheitern an meinem Anspruch, dass mein Kind kein Leid widerfahren darf und ein Teil von mir weiß, dass das so richtig und wichtig ist und trotzdem fühle ich mich gerade wie die Mutter, die es einfach nicht gebacken bekommt. Selbst mit dem Wissen, dass es wichtig ist, dass ich an diesem Anspruch scheitere. Dass es wichtig ist, dass ich diesem Anspruch nicht allzu viel Raum gebe und ich mein Kind durch all diese Erfahrungen begleite, die das Leben zu bieten hat, fühle ich mich in dieser Sekunde für einen kurzen Augenblick in höchstem Maße inkompetent. 

Was ist es denn, was ich meinem Kind mitgeben kann auf seinem eigenen Weg ins Leben, wenn es nicht meine 1000 Arme, Hände und Füße sind, die jeden Stolperstein und jeden Schmerz aus dem Weg räumen? Was ist es denn, was ich dazu beitragen kann, dass dieses Kind sich im Leben gehalten fühlt, auch wenn es durch all diese unangenehmen Gefühle wie Ekel, Angst, Scham und Trauer gehen muss?

“Was ist eigentlich dein Patronus?”, frage ich auf dem Heimweg meine Tochter im Auto. “Häää?”- “Was ist das schönste Erlebnis, an das zu denken würdest, wenn du deinen Patronus heraufbeschwörst, um die Dementoren zu verjagen?” Mit “Ich weiß es nicht, Mama.” schiebt meine Tochter meine Frage zur Seite. Es gibt ein Alter, da kommen solche Art Fragen nicht so passend, merke ich…

… “Ich weiß es auch nicht.” spreche ich leise. Abi in der Tasche, Geburt meiner Kinder, Hochzeit… Die klassischen Erlebnisse gehen mir durch den Kopf. Mit all diesen Erlebnissen verbinde ich nie 100%-iges Glück. Die Geburt meiner Kinder war natürlich tief bewegend, aber auch höllisch anstrengend und schmerzhaft. Meine Hochzeit war wunderbar und gleichzeitig voll von Strukturen und geplanten Abläufen, die mir nicht oft die Möglichkeit geschenkt haben, genau im Moment zu sein und wirklich zu hundert Prozent zu genießen… 

So gehe ich ein wenig enttäuscht und traurig in den Samstagabend mit einem Fragezeichen und einem Loch in mir drin, das eigentlich gefüllt sein sollte mit Glücksmoment… Habe ich überhaupt mal sowas, wie einen ultimativen Glücksmoment erlebt? Wie fühlt sich das eigentlich an, so ganz und gar vom Glück durchflutet zu sein? Geht das überhaupt? Oder macht sich der Schmerz in Windeseile wieder Platz? Kribbelt es durch meinen ganzen Körper, wenn der Patronusmoment da ist? Fühle ich mich dann leicht, wie eine Feder oder tief schwer und geerdet?

Bei 24 Grad laufe ich an diesem Septemberabend über feuchtes Gras und schließe die Augen. Die Bäume im Nachbargarten wehen im Wind leicht hin und her und es hört sich fast ein bisschen so an, wie Meeresrauschen… Ich denke an unseren Sommerurlaub… Abendsonne, leichter Wind, spielende und ausgelassene Kinder, die ihrem eigenen Rhythmus nachgehen, sich im Spiel verlieren, frei sind… Mein Blick über die ruhige Landschaft, das Kinderlachen um mich herum, mein Mann neben mir, in die gleiche Richtung schauend. Keine Erwartungen, die ich zu erfüllen habe, keine Gefahr, die ich in diesem Moment aus dem Weg räumen will. Leichtigkeit in mir drin, Erdung in meinen Füßen, Wärme auf meiner Haut, Gedankenleere in meinem Kopf, Raum… Nie habe ich mehr Glück empfunden… Wie kitschig simple diese Szene ist, schenkt sie mir das zutiefst empfundene Glück auf dieser Erde: Meinen eigenen Rhythmus, meine Verbundenheit mit mir selbst, diese Gestaltungsfreude und Freiheit meiner Kinder um mich herum, dieses tiefe Vertrauen, dass sie ihren Weg machen werden, meine Verbindung zu meinem Mann, mich gehalten und gleichzeitig frei zu fühlen. Wie kitschig glücklich ich mich gerade fühle, dass ich bestimmt 1000 Dementoren mit diesem einzigen Glücksmoment verscheuchen könnte…

Ich atme tief durch und spüre, dass ich eigentlich so wenig brauche und schon so viel habe, was ich nur genau in diesem Moment spüren und wahrnehmen darf. Ich brauche nichts erledigen, ich brauche nichts konstruieren, ich brauche nichts erstellen und fixieren. Ich brauche nichts pushen, drücken oder in Form pressen. Ich darf einfach mit offenen Augen durch diese Welt gehen. Ich darf immer wieder dafür sorgen, dass ich mich so klar und selbstverbunden durch diese Welt bewege, sodass ich keinen dieser Patronusmomente, die auf meinen Weg liegen, verpasse. Und liegt dann nicht das größte Geschenk an meine Kinder darin, dass ich sie immer wieder daran erinnere diese Glücksmomente mit jeder Faser einzusaugen und das Licht für all die Schmerzen und all das Leid, was sie noch spüren werden, größer werden zu lassen… Dafür braucht es nicht viel… Dafür braucht es den offenen und weiten Fokus und die Verbindung zum Augenblick, der uns allzu oft so schwer fällt wirklich zuzulassen… Uns einzulassen auf all das Glück, was diese Welt uns spüren lassen will…

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