Orientierung und Neugier

Orientierung und Neugier

Es ist windig, stürmisch, der Hagel fegt mir ins Gesicht. Meine Regenhose klebt eng an meiner Leggings, das Wasser tropft mir von dem Schirm meiner Kapuze hinunter, die ich mir tief ins Gesicht gezogen habe. Tropfen für Tropfen fegt mir das dort gesammelte Regenwasser auf meine Nase und läuft von da an weiter an meinem Gesicht hinunter. Das macht den Kohl auch nicht mehr fett, denke ich. Denn ich bin so nass in meinem Gesicht, dass meine Schminke schon überall hingelaufen ist. – Ich muss aussehen wie ein dicker Panda, der sich in der Landschaft verirrt hat…

Die dänische Nordseeküste zeigt sich jetzt im Oktober von seiner stürmischen Seite. Wo ich vor ein paar Monaten noch mit Sonnenbrille und Kleidchen auf der sonnigen Terrasse lag, kämpfe ich jetzt mit der geballten Kraft der Natur. Es hat was Pures, was Reinigendes und gleichzeitig auch eine Spur von Bedrohung. Ich und meine Tochter wollten aber trotz Sturm unbedingt am Anreisetag noch den Strand sehen… Fluchend krakzeln wir beide die erste sandige Düne hoch. Oben angekommen genießen wir trotz heftigsten Windes und prasselnem Regen den Blick auf eine ruhige Heidelandschaft mit traumhaften grün, braun und lila Tönen… Der heftige Regen lässt vor meinen Augen alles ein wenig verschwimmen und genau deswegen nehme ich diesen tiefen Duft nach frischem Regen, der salzigen Meeresluft und den sandigen Dünen besonders intensiv wahr. Mit einem inneren Lächeln schmeißen ich und meine Tochter uns in die landschaftlichen Fluten…

Mit all der angestauten Energie, die wir bei der achtstündigen Fahrt nicht rauslassen konnten, rennen wir die Düne hinunter. Der Regen peitsch uns ins Gesicht, der Regen klebt meine Regenhose dicht an meine Beine und meine Füße machen einen matschigen Schritt nach dem anderen. Wir schließen immer wieder für kleine Augenblicke die Augen, um uns selber zu spüren. Die zahlreichen Eindrücke zu selektieren. Die Eindrücke dieses verschwommenen Blicks irgendwie einzuordnen, unseren Körper bewusst gegen diesen heftigen Wind zu drücken und trotzdem eine Ahnung zu bekommen, wo dieser Weg zum Strand lang führen könnte. – Kein anderer Mensch hat sich hinaus getraut. Nur wir rennen hier gerade wie zwei kleine bekloppte Rennmäuse durch die Heidelandschaft Richtung Meer. Wir folgen den zahlreichen, kleinen Trampelpfaden, die uns schon andere Menschen vorausgegangen sind und springen immer wieder hin und her, um uns dann wieder eigene Wege zu suchen. Die Landschaft ist flach und übersichtlich. Die nächste Dünenreihe vor uns ist deutlich zu erkennen… die kleinen dahinführenden Wege schlängeln sich vor uns entlang. Immer wieder das feste Ziel im Auge: Das Meer. Zeitweise wird der Regen wieder so heftig, dass wir rückwärts zum Strand laufen müssen. Der Hagel im Gesicht ist zu stark, als dass wir die ganze Zeit vorwärts laufen können.

Mit tierisch Spaß schmeißen wir uns rückwärts gegen den Wind und schleichen so den Weg weiter. So von dieser Perspektive sieht der Weg, den wir schon gegangen sind, ganz anders aus… Obwohl ich einen dieser zahlreichen Wegmöglichkeiten gerade schon gegangen bin, hätte ich in diesem Moment nicht mehr sagen können, welcher der vier Dünen wir bei unserem Rückweg zum Haus nehmen müssen… Wo sind Punkte, an denen ich mich orientieren kann? Ich erkenne den struppigen kleinen Strauch, der mitten im Weg seinen Platz gefunden hat und dem Sturm trotzt. Ich erkenne den großen Flecken von grau-grünem Moos, der in einem 45 Grad Winkel rechts von ihm auf dem Boden liegt und die Feuchtigkeit gerade dankbar aufsaugt. Sonst sieht alles so verblüffend gleich aus. Nur wenige kleine Unterschiede kann ich so zurück blickend ausmachen. Dieser kleine trotzdende Strauch, an dem richte ich gedanklich gerade alles aus. Es dämmert mir, dass es vermutlich nicht so leicht wird den richtigen Rückweg und Dünenaufgang ausfindig zu machen.

Da reißt mich meine Tochter aus meinen Gedanken: „Der Regen wird weniger!“ – Wir beide laufen nun entspannter zum Strand und freuen uns an der Weite des Wassers, das uns das Meer zeigt. Genau so eine Weite wie diese Heidelandschaft, keine festen Punkte zu erkennen, kein Strauch, kein Moos, ständige Bewegung und Dynamik. Ich liebe es und es strengt mich auch an. Ich merke, dass es mir heute schwerfällt mich dieser Lebendigkeit, diesen fehlenden Orientierungspunkten ganz hinzugeben. An was soll ich mich halten, wenn ich den Weg nicht mehr weiß? Ich suche Grenzen im Wasser. Ich suche mehr oder weniger konstante Punkte, an denen ich mich ausrichten kann, die mehr oder weniger sicher sind. Meine Augen haben kaum ein Bezugspunkt. Unendlich weit und frei und gleichzeitig auch wuschelig konstantlos. Das dynamische Chaos der Wellen, das war die einzige Konstante, die ich finden konnte. Wir drehen um, laufen über den Sand, die Gräser, die erste Dünengruppe und finden den Strauch in der Heide.

Bis hierhin fühle ich mich sicher mit dem Weg. Ich weiß, hier war ich schon mal. Von hier aus ging es weiter. Ich spüre diese tiefe Verbindung mit diesem kleinen, feinen, konstanten und sicheren Strauch, der mir die Chance bietet kurz durchzuatmen. Von diesem Flecken Erde aus kann ich weiter durchstarten. Hier ist es erstmal sicher. „Ich bin auf dem richtigen Weg.“ – Auch wenn ich keine Ahnung habe, welche der vier Dünenaufgänge vor mir nun meiner ist. Ich spüre eine orientierte Basis in dieser Landschaft, in der alles so gleich aussieht.

Meine Tochter läuft vorweg. Sie läuft und freut sich, dass der Regen endlich aufgehört hat und auch ein bisschen auf die heiße Schokolade und den Kaminofen. Sie läuft einfach irgendeinen dieser vier Aufgänge hoch, die vor uns liegen. “Äh, weißt du wo wir hoch müssen? Ich hab gerade keine Ahnung!” schreie ich noch hinter ihr her. “Ich guck mal eben Mama!” Sie guckt und tut. – Ich denke vor mich hin… Sie probiert es einfach aus, ist voller Neugier und lässt sich treiben. Ich stelle Ideen auf. Ich versuche mich an schon Bekanntes zu erinnern und daraus einigermaßen sicherer Rückschlüsse zu ziehen, um uns sicher von hier nach Hause zu bringen. Meine Tochter macht einfach und läuft. Sie läuft und freut sich. Kommt von der ersten Düne lachend zurück: „Die war es nicht. Hinter der Düne ist ein anderes Haus als vorhin!“… und läuft zur nächsten. Ich betrachte dieses Schauspiel und beschließe mich ganz auf ihre Art der Orientierung zu verlassen und meinen Kopf mal auszuschalten. Sie läuft von einem gemeinsamen sicheren Punkt und erkundet, probiert aus und ist voller Zuversicht. Gerade mal keine Spur von Sorge, Angst oder Genervt sein…

Ist es wirklich so, dass wir scheinbar so erwachsene Menschen uns ständig versuchen mental zu orientieren? Irgendwie auf logische Art und Weise zu erfassen wo wir gerade sind, wer wir sind und wie wir da sind? Wir sind Künstler uns Gedanken im Kopf zu machen, Themen und Dinge bis zum letzten Funken zu zerreden. Wann kommen wir denn ins Tun? Wann fangen wir einfach mal an, auch auf die Gefahr hin.. ja auf welche Gefahr eigentlich? Meine Tochter kommt atemlos bei mir an. “Ich hab den richtigen Aufgang Mama. Der da!”… Lachend folge ich ihr und bewundere diese leichte Art und Weise der Neugierde und der Idee nicht erstmal alles mental zu durchdenken. Diese Sicherheit in ihr Dinge einfach auszuprobieren und wirklich zu erfahren.

„Was du nicht im Kopf hast, das hast du in den Beinen!“ Ist doch ein altes Sprichwort. Manchmal glaube ich, dass es sich lohnen würde mehr Training in meinen Körper zu investieren, als mir ständig über alles Gedanken zu machen und am besten im Voraus zu planen. Würde ich dann nicht auch mit mehr Leichtigkeit und Neugierde ins Ausprobieren gehen und mir sicher sein, dass mein ganzer Körper, mein Kopf und meine Gefühle diese neuen Eindrücke liebend und wertschätzend willkommen heißen?

Denn eines ist sicher: Nur meine Tochter allein weiß in unserer Familie bis heute, wie die Häuser hinter den anderen Dünenaufgängen ausgesehen haben. Ich habe bis heute nur ihre Erzählung und kein eigenes Bild…

Kommentare sind geschlossen.