Wunderglaube

Wunderglaube

Sie würfelt: Die Augen zeigen Zwei, Drei, Vier und zwei Fünfen. Auf ihrem Zettel ist die große Straße noch frei. „Check, jetzt in zwei Würfen aus der einen Fünf ne Eins oder Sechs und dann sind die Punkte der großen Straße gesichert.“ – Mein Kind sieht das anders. Sie schmeißt mit einem Schwung die Zwei, die Drei und die Vier zurück, behält die zwei Fünfen und schüttelt den Becher, inklusive der drei Würfel energisch. „Was machst du denn da?“, frage ich mit runzelnder Stirn. „Ich will noch einen Kniffel, Mama!“ – „Aber du hättest doch ne ziemlich große Chance gehabt die große Straße zu bekommen. Das sind immerhin auch 40 Punkte.“ – „Aber Mama, für den Kniffel gibts immer die meisten Punkte und ich schaff das.“ Und was soll ich sagen? – Sie hat’s geschafft. Sie hat sich gefreut wie ein Honigkuchenpferd. Ihr Verlieren in den ganzen Spielen zuvor war vergessen. Die Freude über das aktuelle Gewinnen rechtfertigte in ihren Augen jeden Frust des vorherigen Scheiterns, des Ausprobierens, des Übens.

Sind Kinder einfach geübter als wir zu scheitern? Ihrem Frust Ausdruck zu verleihen? – Ihn damit aber auch wieder loszulassen und freier in den nächsten Versuch zu starten? Sind sie einfach noch nicht so voll mit den Gefühlen von Scheitern und Misserfolg? – Aber wie oft scheitert ein Kind im Laufe seiner Entwicklung daran, sich aus eigener Kraft aufzurichten? – Alleine die ersten Schritte zu gehen? Wie oft scheitert ein Kind daran sich verständlich auszudrücken und spürt den Frust, von der eigenen Mutter nicht verstanden zu werden? – Und trotzdem sitzt dieses Kind nun vor mir und ist bereit das Risiko einer erneuten Frusterfahrung einzugehen, nur für die Chance einer kleinen Wundererfahrung. Ich empfinde das als mutig – zutiefst mutig und spüre gleichzeitig, dass ich nicht mehr mit diesem offenen Blick für Wunder und dieser Risikobereitschaft durch die Welt gehe. Ich verhalte mich irgendwie klarer, kalkulierbarer, kontrollierbarer, berechenbarer. Der ganze Glitzerstaub, der Sinn für Wunder scheint woanders hingeweht. Wohin denn eigentlich?

Ich als Mutter will nicht verschweigen, dass ich die Äußerung meiner Kinder von Frust, Wut und Motivationslosigkeit nicht immer als angemessen empfinde… Sie erschöpfen mich bisweilen durchaus bis zum Rande meiner Energie… und doch spüre ich diese ungeheure Freude und Energie an Wunder zu glauben – An das, was ich erwachsene Mutter passé als unrealistisch abstrafe. Ich beobachte mein Kind dabei, wie es sich beim Kniffelspielen daran hängt zu glauben, dass ihr in jedem Durchgang mindestens ein Kniffel zusteht und das imponiert mir und verwirrt mich gleichermaßen. „Wie kann man so unrealistisch in die Welt blicken?“, denke ich mir gerade. „Oder steht mir nur ständig meine Logik im Weg?“ – Die Gedanken an die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten? Gepaart mit inneren Glaubenssätzen, dass ich es sowieso nicht schaffe, es die emotionalen Aufregungsmühe auch nicht Wert sei und mich in meiner inneren Vorstellung nur all zu gerne bestätigt sehe, wenn ich auch aus dieser Runde ohne Kniffel raus gehe.

Was passiert da, dass ich mit diesem Fokus des „NICHTWUNDERS“ durch die Welt laufe? Warum meine ich eigentlich so oft zu wissen was passieren wird? – Meine Erfahrung begrenzt meine Möglichkeiten. Spannend! – Ist das wirklich so oder ist es nur meine starre, innere Vorstellung, die mich davor schützen will, dass ich mich an ein Wunder klammere, um dann doch enttäuscht zu werden? Ich habe keinen Elan mehr mein Risiko auf Enttäuschung zu testen, auszureizen, zu erschöpfen. Ich bin nämlich in vielen Momenten all zu oft selber einfach zu erschöpft. Das was oben drauf kommt zu meinem Daily Business, kann genau das sein, was das Fass zum Überlaufen bringt. Ich habe das tiefe Bedürfnis nahezu alles kontrollierbar zu halten, weil es mich in der Masse schon im „Normalen“ droht aus der Bahn zu werfen. Das Risiko auf Enttäuschung kann ich nicht mehr Halten. Oder kann ich das Risiko für Wunder nicht mehr halten? – Ich bin mir gerade gar nicht so sicher, ob mich eine weitere Enttäuschung oder ein wirkliches, kleines Wunder mehr aus meiner eingefahrenen Bahn werfen würde? Eine Enttäuschung bestätigt mich in meinem inneren kleinen Glaubenssatz, dass ich ja sowieso den Kniffel nie würfeln werde. Ein Kniffelwunder, würde mich vermutlich so verwirren, dass ich ja meinen inneren Glaubenssatz in Frage stellen müsste, könnte, sollte … Und würde das bedeuten, dass ich auch in anderen Lebensbereichen offener für Wunder sein müsste, könnte, sollte? … Wie würde das doch alles durcheinander bringen? – Jetzt schaffe in meinen Alltag doch gerade so. Wie ist es erst, wenn nochmal alles durcheinander gebracht wird und sich neu sortieren muss. Eine Neusortierung ist nicht unanstrengend… Erstmal fordert sie ziemlich viel Energie, bis vielleicht, ganz eventuell auch mehr Ruhe einkehren würde…

Wie oft klammere ich mich an einer Wunder? Wie oft traue ich mich zu glauben, dass etwas so unerwartet gut ausgeht, dass meine Freude mich schier sprengen könnte. Schnell ist der instinkthafte Wunsch nach Schutz in allem Berechenbaren so groß, dass es mich scheinbar sicher sein lässt und es sich gleichzeitig auch irgendwann unendlich langweilig anfühlt.

Ich sehe gerade mein Kind, dass vor Freude durch den Raum tanzt, weil es mit Hilfe ihres Kniffeln eindeutig gewonnen hat.

Ich habe die erste Runde gewonnen und habe es mit so einer Art „Oh ja, da habe ich aber mal Glück gehabt” und einem kleinen, mühevollen Lächeln abgetan… Rechne in meinem Kopf schon die Wahrscheinlichkeit dafür aus, überhaupt mal wieder beim Kniffeln zu gewinnen… Spüre wie gering die Chance ist, dass sich dies wiederholt und betäube meine Freude, damit ich mich ja nicht zu sehr an Wunder gewöhne. Wunder sind nicht berechenbar. Sie sind eben nicht verlässlich. Sie haben ihre eigene Laune, ihren eigenen Rhythmus und sind nicht kontrollierbar oder bestechlich.

Ja, das alles stimmt so und jetzt gerade habe ich Glück gehabt. Ich, die nur selten auf einen Kniffel spielt, habe höchstens zufällig diese sechs gleichen Augenzahlen bei drei Würfen. Ich versuche meinen Glaubenssatz zu schützen, ihn in meinem Kopf stabil zu halten… Das Wunder schiebt von jeder Seite… Jetzt gerade hab ich ein kleines glitzerndes Kniffelwunder geschenkt bekommen und das rüttelt tatsächlich doch ein wenig an meinen ganzen eingefahrenen, kalkulierbaren und gleichzeitig auch kontrollierbaren Glaubenssätzen – Vielleicht sind doch mehr Wunder auf meinem Weg, als ich meine?! Und vielleicht braucht es diese kleinen Momente, in denen ich zulassen kann und will, dass diese kleinen Wunder Spuren in mir hinterlassen dürfen und eine Neusortierung in Gang setzen…

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