Hol dich selber ein…

Hol dich selber ein…

Manchmal erschrecke ich mich vor meiner eigenen Schnelligkeit. Man könnte sagen, dass es eine tolle Sache sei, Dinge, Zustände, Situationen schnell und zügig zu überblicken, den Fokus weit zu stellen und schnell zu agieren. Oft ist es auch so… und dann gibt es diese Tage, da entdecke ich die Schattenseiten dieser Schnelligkeit – Dieser raschen Auffassungsgabe und Reizverarbeitung. Ich tanze gefühlt auf allen Hochzeiten – Multitasking soll es ja doch nicht geben, habe ich letztens irgendwo gelesen – Ich könnte wetten, dass ich jeden Tag etwas anderes beweise… Es verausgabt mich an irgendeinem Punkt so tief, dass ich kaum noch weiß wer ich bin und wo ich mich selber wieder finden kann.

Ich räume den Geschirrspüler aus, mache gleichzeitig noch das Teewasser an, wische noch schnell die Arbeitsplatte ab, spähe in die Brotdosen der Kinder – alles drin. Rufe noch schnell nach oben „Aufstehen – es sind nur noch 5 Minuten!“ – freundlich, versuche ich es noch rauszudrücken… Meine Schnur wird kürzer, ich jongliere umher, versuche noch krampfhaft die To dos in meinem Kopf zu ordnen und zu sortieren. Spüre so langsam wie ich fahrig werde, meine Hände anfangen heiß zu werden, mein Herz schneller schlägt und mein Blick wirrer umher wandert. Ich gerate immer mehr in diesen typischen, impulshaften und abhandelnden Bewegungsautomatismus. Ich stehe bereits in der Mitte der Brücke, auf deren anderen Seite ich mich schon komplett verloren hätte. Ich spüre das. Mir ist es bewusst, dass ich gerade vergesse, mich in meiner eigenen Schnelligkeit selber mitzunehmen… Ich funktioniere. Ich weiß nicht, wie wohl ich mich darin fühle. Es ist eine Art Hassliebe. Gleichzeitig spüre ich, dass ich weiter laufe. Mich selber hinter mir lasse… Mich selber davon laufen sehe… Ich merke, wann ich auf die Brücke steige. Ich merke, wenn ich auf dieser Brücke immer weiter in Richtung anderes Ufer laufen. Ich spüre, wie ich laufe, laufe, laufe und selber nicht mehr Schritt mit mir halten kann.

Es gibt Momente, an denen diese Phase des Funktionierens überschaubar ist. Die Umstände lassen mich irgendwann innehalten – einfach weil es im Außen keinen Punkt mehr gibt, dem es sich lohnt hinterher zu laufen, abzuhandeln, zu erfüllen, zu befriedigen. In dieser Situation genieße ich das kurze Bewegen, das leichte überschaubare Verausgaben. Dieses Gefühl, dass ich funktionieren kann. Ich kann, wenn ich muss. Klasse! – Und gleichzeitig weiß ich hierbei nicht, ob ich auch bewusst aufhören könnte. Stoppen könnte, wenn nicht das Außen mir weiter Futter zum Agieren hinwirft. Könnte ich selber eigentlich sagen „Es reicht! Ich brauche Pause. Ich mache später weiter.“ Es gibt einen Kipppunkt, an dem sich dieses Funktionieren einfach nicht mehr schön anfühlt, keine Energie schenkt und vitalisiert, sondern mir Energie nimmt und mich völlig verausgabt. “Alles mit ZU ist nicht gut!”… Ein Satz, den mein Opa mir schon als kleines Kind sagte, als es noch um den Konsum von Süßigkeiten ging.

Diese Erfahrung des bewussten Stoppens am Kipppunkt, schenkt mir nicht wirklich die Situation an sich. Diese Erfahrung kann nur ich mir selber schenken, in dem ich in einem völlig überfrachteten, chaotischen Alltag für einen Moment innehalte. In dem ich durchatmen kann, mich selber wieder einholen kann und mich mit mir selber kurz ausruhe, um dann mit mir gemeinsam weiter zu gehen. – Dann hört es auf dieses Hinterherrennen, mich selber zu verlieren, mich nicht zu spüren, mich irgendwie nicht ganz zu fühlen. Dann kann es vielleicht sogar anstrengend weiter gehen und doch spüre ich dann diese Anstrengung und ignoriere sie nicht. Ich kann dann ganz sein, auch wenn es anstrengend ist – bewusst diese Anstrengung eingehen und mich nicht in sie hineingeworfen fühlen. Ich kann dann da sein, auch, wenn ich vielleicht gerne woanders wäre. Alles was es für mich dann im Alltag braucht, ist eine Erinnerung. Eine Erinnerung, mir selber manchmal die Zeit zu schenken und mich selber wieder einzuholen. Mich ganz präsent zu fühlen mit meinem Körper, meinen Gedanken, meinen Gefühlen. Ich bin hier und jetzt da und ich laufe mir nicht weiter hinterher, wenn ich in meinen ganzen Lebensrollen unterwegs bin.

Was ist mein Anker, der es schafft mich kurz zu stoppen? – Was ist das, was mich daran erinnert, dass ich kurz selber auf mich warte? – Was ist das, was mir ein kurzes Innehalten schenkt? – Was ist das, was es mir schenkt mich wieder ganz zu fühlen?

Ich verschenke in meiner Praxis „Center Shocks“ – Diese sauren Kaugummis, die einem kurz das Gesicht einfrieren lassen, wenn man es in den Mund nimmt. Die meisten Kinder lieben diese kleinen sauren Momente, die einen wieder bei sich selber ankommen lassen. Die Säure lässt es gar nicht zu mit seinen Gedanken und Gefühlen woanders zu sein, als in diesem Moment. Es geht nicht um die Ängste der Vergangenheit und nicht um die Sorgen der Zukunft. Das Körpergefühl, was dieses saure Ding in einem auslöst, lässt nur zu in der Gegenwart zu sein – im Hier und Jetzt. Und genau da ist es möglich sich selber wieder einzuholen und neu auszurichten. Es ist in gewisser Weise so eine Art RESET. Kurz das Hamsterrad verlassen, neu justieren und bewusst weiter gehen und agieren. – Was lässt dich also kurz einfrieren? Was lässt einen kurzen RESET zu? Ein Aussteigen aus dem Hamsterrad?

Was ist deine Ressource, an die du dich erinnern möchtest? Was ist das, was dir wieder Kraft schenkt und dich auflädt, wenn du nur all zu viel laufen musstest, um dich selber wieder einzuholen? Wie schaffst du es, dass du manchmal nur einen kleinen Sprint hinlegen musst, um mit dir wieder auf einer Höhe zu sein? Keinen Dauerlauf auf dich nehmen musst, nach dem du dich über Tage, Wochen, Monate erholen musst und es ein immenses Aufgebot deiner Ressourcen braucht, um diese lange Verausgabung wieder zu heilen?

Manchmal reichen diese kleinen, mini kleinen Glitzermomente, in denen du dich kurz umblickst, dich selber hinter dir herlaufen siehst und bewusst einen kurzen Moment wartest, bis du dich selber wieder einholst. Innehalten, atmen, dich selber stärken und mit dir in voller Präsenz weiter gehen… Üben, immer wieder üben… Ausprobieren was es braucht, dich umblicken, dich einholen, dich ressourcieren, dich in deiner Ganzheit spüren, weitergehen, ins Hamsterrad geraten, dich umblicken, innehalten, dich selber wieder einholen, stärken, atmen, dich spüren und wahrnehmen, weitergehen… Nicht zu streng sein mit dir selber, dich schätzen für dein stetiges Üben, dein Dranbleiben, dein Ausprobieren, dein Scheitern, dein Krone richten, deinen Mut immer wieder rein zu spüren, dich überwältigen zu lassen von dir selber und immer wieder weiter zu machen! Genau das bedeutet zu Lernen. Genau dieses Dranbleiben und immer wieder in die Selbstverbindung zu gehen, dich selber wieder einzuholen und mit deiner Ganzheit weiter zu gehen. Genau das bedeutet Lernen und genau das braucht dein Kind, um sich so berühren zu lassen, dass es nachhaltig kognitiv lernen kann und genau deshalb verdienst genau DU mehr als einen Orden dafür, dass du selber dran bleibst und deinem Kind zeigst, wie es gelingt immer weiter zu üben und damit wirklich zu lernen.

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