Sonnenbrille, Jogginghose

Sonnenbrille, Jogginghose

Hurricane-Festival 2012 – Lisas Freund biegt mit seinem kleinen VW auf das sandige Festivalgelände. Lisa atmet tief durch… Ihr kommen bereits an die 60 Leute entgegen. Sie ziehen bis zur Unzumutbarkeit bepackte Bollerwagen hinter sich her. Einer zieht vorne, der andere schiebt von hinten. Der Sandstaub klebt auf den verschwitzten Gesichtern. Lisa atmet tief. Sie finden einen Parkplatz. Von hier aus sind es ungefähr 15 Gehminuten bis zum Festivalgelände. Lisa steigt aus, riecht den staubig, trocknen Sandwind, der ihr ins Gesicht fegt. Es ist sooo heiß. Ihre Haut bildet schon jetzt einen leichten Schmutzfilm – warm, feucht und sandig. Sie bekommt bei dem Hinspüren eine leichte Gänsehaut… Lisa und ihr Freund laufen los. Neben ihnen läuft ein Pärchen in einem schwarzen Lack und Leder Outfit. Der eine ruft „Sei mein Sklave.“ … Lisas Freund lacht ausgelassen. Lisa zieht ihre Sonnenbrille auf. Ihre Augen entspannen sich ein wenig. Ihr Blick weitet sich. Plötzlich nimmt sie neben dem Lack-und-Leder-Pärchen auch noch die Gänseblümchen wahr, die am Wegesrand wachsen und allen heranrollenden Bollerwagenrädern trotzen. Sie richten sich einfach wieder auf. Sie recken sich nicht weit in die Höhe. Sie haben gelernt, dass es sicherer ist in Bodennähe zu bleiben. Breit und buschig verteilen sie sich auf dem ganzen Feldrand. Lisa schließt die Augen, atmet durch, nimmt die Hand von ihrem Freund.

Es ist gerade ungefähr 13 Uhr… Die Sonne würde noch etwas stärker werden und dann wieder abtauchen und Lisa sich weniger warm und schwitzig fühlen. Eine innere Hitze kocht hoch. Lisa lässt ihren Pulli trotzdem an. Sie schwitzt – ja- und gleichzeitig kühlt ihr Pulli sie von innen. Er ist wie eine Art Schutz um sie herum. Ein Schutz, der Lisa ihre eigene Körpergrenze fühlen lässt. Hier ist sie in dieser völlig skurrilen Welt gelandet, in der an jeder Ecke Momente warten, die sie kaum einordnen kann. Momente, die für ihr Nervensystem potenzielle Gefahr bedeuten. Sie ist erschöpft von 15 Gehminuten bis zum Festivalgelände… Geht durch den Einlasspoint… Ist drin in den Grenzen dieser anderen Welt. Ein bisschen neugierig und gleichzeitig hochgradig verwirrt von all dem was ihren Blick erreicht. Sie sieht in jeder Ecke das Unsichere. Das was nicht einzuschätzen ist… Um 22 Uhr fragt sie ein völlig fremder Mensch, warum sie nicht ihre Sonnenbrille abnehmen will und ob sie nicht gemerkt habe, dass es dunkel ist… Für Lisa scheint es immer noch alles grell. Durch die Brille fühlt sie sich ein wenig entfernt von allem. Nicht ganz so doll drin – ein wenig Luft zwischen dem Geschehen draußen und ihrem Geschehen drinnen… Sie kann für kurze Momente aus dem Außen abtauchen. Hinter ihre Sonnenbrille, durchatmen, sich sammeln, sich fühlen und zurück kehren zu der Menge da draußen… Eine Pufferzone, ein kleiner Zwischenraum… was intimes, was eigenes, was Vertrautes… Die Möglichkeit sich selber in der chaotischen Menge nicht völlig zu verlieren… Die Dosierung anzupassen… Eine Wahlmöglichkeit zu spüren.

Sich für einen kleinen Augenblick unsichtbar machen für all das was da draußen so unbekannt ist. – Wie wunderbar es wäre, wenn man sich auf Knopfdruck unsichtbar machen könnte. Wenn man verschwinden könnte, in ein Loch fallen würde und erst wieder rauskommen muss, wenn es sich wieder einigermaßen sicher anfühlt. Das denkt bestimmt auch Lisa und hat mit ihrer Sonnenbrille eine kleine neutrale Zone gefunden, die ihr hilft sich selber wieder wahrzunehmen und sich nicht in all dieser unsicheren Umgebung ganz zu verlieren.

Leider bieten so wenige Situationen einen Fluchtraum an. Vermeintlich. Wir fühlen uns so vielem ausgeliefert und versinken in einem Angstfeld, das uns manchmal komplett vereinnahmen kann. Was bietet dir Schutz? Was bietet dir einen Zwischenraum? – Einen kurzen Augenblick, um achtsam zu sein. Mit dem was du gerade brauchst. Mit dem was dir gerade ein bisschen mehr Sicherheit schenkt und mit dem du dich wieder präsent fühlen kannst?

Ist es der Geruch von frischem Kaffee, der dich immer an deine Kindheit erinnert, in der deine Oma jeden Sonntag um 15 Uhr den Kaffee frisch aufgebrüht hat? Oder ist es die Jacke, die du um die Hüfte bindest, um durch den leichten Druck dich selber präsenter zu spüren? Oder ist es Barfußgehen im Frühling, bei dem dich die Menschen unverständlich anschauen”? – Es ist doch noch viel zu kalt fürs Barfußlaufen. Oder reicht ganz simpel die Sonnenbrille? Das Cappi? Die Jogginghose im Unterricht? Ein Schal um deinen Hals…? Was lässt dich bei dir selber wieder ankommen und dich sicherer fühlen in deiner eigenen Haut an dem Fleck an dem du gerade sein darfst? Was unterstützt dich dabei in der Situation zu bleiben und dich mit dir selber zu verbinden, damit du anderen mit Interesse begegnen kannst?

Lisas Sonnenbrille ist kein Zeichen für Respektlosigkeit für ihr Gegenüber, sondern als Symbol des Respekts für sich selber und ihrer eigenen Bedürfnisse. Und letztendlich ist es folgerichtig auch der Respekt all den Menschen gegenüber, die sie umgeben. Denn was wäre, wenn eine dysregulierte Lisa in Panik verfällt? Ihrer eigenen Not und tiefen Unsicherheit impulsiv und unbewusst irgendwie Ausdruck verleiht? Weder das Festival noch das Sitzen in der Schule ist in der Regel lebensbedrohlich. Und doch kann ein Nervensystem es so empfinden. „Ach, stell dich nicht so an.“ Ist keine Reaktion, die ein hoch erregtes Nervensystem beruhigt und reguliert. Viel mehr braucht es Anerkennung und Würdigung dieser Unsicherheit. Sie braucht Zeit und Raum sich gesehen zu fühlen… und wie wunderbar, wenn es die Sonnenbrille oder die Jogginghose sein können, die für einen Augenblick einen Raum schaffen, der als sicherer empfunden werden kann. Es ist sicherlich eine Herausforderung dieser Unsicherheit einen angemessenen Raum zu geben -Und ja, gerne Kinder geben ihren eigenen Bedürfnissen und Unsicherheiten einen dramatisch hohen Stellenwert, dem jede Relation zu fehlen scheint… Und lass uns ihnen doch vorleben, wie es gehen kann, seiner eigenen Unsicherheit ein Stückchen Sicherheit an die Hand zu geben. Damit es eben nicht immer den großen pathetischen Rahmen braucht, der alle anderen einzusaugen scheint. Welche kleine Kleinigkeit kann meine Umwelt halten und mich gleichzeitig ein wenig sicherer fühlen lassen?

Frage dich doch hin und wieder „Warum macht mein Kind das jetzt? Wofür dient es ihm? Was ist dadurch leichter?“ – Nicht alles was dein Kind macht und dir vielleicht missfallen könnte muss als Provokation verstanden werden! Je präsenter und sicherer du dich mit dir fühlst, desto leichter wird es dir gelingen weniger auf dich persönlich zu beziehen. Immer mehr Aktionen deines Kindes kannst du wertfrei betrachten, musst nicht einsteigen in eine Konfrontation, musst dich nicht persönlich provoziert fühlen. Was brauchst du also gerade, um dich selber ein bisschen sicherer und präsenter mit dir und in deiner Umwelt mit all den Menschen zu fühlen? Beobachte dich wertfrei. Das ist schon der erste große Schritt zu mehr gelebter Wahlfreiheit und Regulation.

Schön, dass du da bist und gut für dich sorgst. Damit du so gut mit dir verbunden sein kannst! Wir brauchen viel, viel mehr Menschen davon!

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