„Anteile in dir“

„Anteile in dir“

„Schreib schnell!“, schreibt der gehetzte Peter, der bereits morgens nach dem Aufstehen seinem Tag hinterher rennt. Leider wollte er morgens nur fünf Minuten länger im Bett liegen, weil es so schön mollig warm war.

„Schreib schön!“, schreit die Ästhetin Mia in dir, weil es ihr wichtig ist sich mit schönen Dingen zu umgeben. Das weiß sie seitdem sie sich den schönen, neuen Malblock ausgesucht hat, der zwar nochmal 3 Euro teurer war als die Variante vom Billig-Discounter, aber egal…

„Schreib leserlich!“, schreit der Piet in dir, der sich inhaltlich mitteilen will. – Manchmal übernimmt diesen Teil auch der Lehrer oder der Papa…

„Schreib nicht zu groß!“, schreit der Geizhals Karl in dir oder die mahnenden Worte der Mama, die nicht nach 2 Wochen schon wieder ein komplett neues Heft kaufen will… Es kostet alles Geld!

„Schreib doch Lip-pen mal endlich mit pp!“, erinnert dich mehr oder weniger deutlich Sven. „1000 Mal gesagt, die Strategie 1000 Mal besprochen und immer noch nicht will es gelingen!“, ermahnt er säuerlich.

„Schreib bitte mit vielen ausschmückenden Adjektiven!“, wirft noch Valentina hinein. Das ist immer gut und jeder möchte deine Geschichte gleich viel lieber lesen… Das freut alle!

Vor mir sitzt das Mädchen, das Lara heißt. All diese kleinen Ich-Anteile, die Peter, Mia, Piet oder Karl heißen wohnen in Lara. Laras Augen gucken gerade durch mich durch. Sie scheint sich mal kurz abstellen zu wollen. Zu groß ist das Chaos, das sich gerade mal wieder in ihr breit macht.
Sie ist ein wortgewandtes und lebensfrohes Kind, das sich gerne mitteilt. Sie blickt mich an mit einer Spur der inneren Zerrissenheit… Wie soll es ihr bloß gelingen diese vielen Anteile in ihr zu sortieren, zu integrieren und dann noch selber zu entscheiden, wer von ihnen jetzt am meisten Recht und am meisten Raum braucht, um gesehen und angewandt zu werden?
In ihrem Kopf spukt schon längst das Weitersinnen über mögliche Konsequenzen, wenn sie dem einen Anteil in ihr mehr Zuspruch schenkt als dem anderen…

… Was würde Mama sagen, wenn sie in zwei Wochen das nächste Heft kaufen müsse – und bekommt sie dann auch wirklich noch eines? Beim letzten Mal war es im Schreibwarenhandel des kleinen Ortes ausverkauft. Was würde Papa sagen, wenn sie ihm voller Stolz die mit großer Mühe und Aufwand aufgeschriebene Geschichte am Abend vorlegt und er sich wieder mal an der „krickeligen“ Schrift stört? – Lara will keinen enttäuschen, den sie doch so lieb hat.

… Eigentlich auch nicht sie selber. Aber um sicher zu gehen, dass erstmal alle anderen zufrieden sind um sie herum, achtet sie jetzt besonders auf die gut leserliche Schrift und dass sie auch ja nicht zu groß schreibt… Beim Schreiben merkt sie die innere Rebellion in ihr. Piet und Karl sind glücklich – Peter, Valentina und Mia machen sich hingegen kampfbereit.
… diese Aufregung, dieses Tohuwabohu lässt Lara auf ihrem Stuhl unruhig hin und her wackeln… Leider merkt das auch ihre Hand und auch die wackelt ungewollt hin und her. „Mist“, denkt sich Lara. Jetzt erkennt Papa heute Abend das Wort bestimmt nicht… Und wieder ein Fehler. Was sagt denn erst Frau Huber morgen, wenn sie das sieht?
Lara beschließt sich jetzt noch mehr zusammen zu reißen… Die nächsten drei Sätze laufen besser… Ihr Körper wird hart, ihre Hand verkrampft sich, aber noch gehts. Sie kennt das schon ein bisschen. Kleine Strategien hat sie bereits, um noch ein wenig länger durchzuhalten… Sie kreist den Kopf und ihre Schultern.

Ich würde so gerne die Punkte auf dem kleinen i mit Herzen machen. Das würde es für mich alles schöner machen, schreit es da laut in ihr auf. „Dafür ist keine Zeit!“ drückt Lara es weg. „Außerdem bin ich jetzt in der 5. Klasse und da macht man das nicht mehr!“, meinte letztens ihre Tante. „Zeit sparen und sich aufs Wesentliche konzentrieren!“, sagte sie. – Ok… Keine Herzchen! – Wo war ich stehengeblieben? Vor ihrem Augen schwimmen die Buchstaben. Sie zwinkert ein paar mal und dann geht es wieder für kurze Zeit. Eine Brille bräuchte sie nicht, sagt der Augenarzt und doch hat sie manchmal das Gefühl, dass ihre Augen nicht immer richtig sehen…

… “Was willst du denn sehen?“ frage ich sie? –

– „Ich muss auf die Schriftform achten und die Rechtschreibung und dann dass der Text sich auch gut anhört. Die Merkwörter vom letzten Mal sollen auch richtig geschrieben werden. Und Mama sagt, dass ich immer viel zu langsam bin und mich immer mit Sachen beschäftige, die nicht so wichtig sind.

… „Was willst du denn?“ , frage ich sie nochmal?

– „Ich will, dass alle stolz auf mich sind und merken, dass ich mir Mühe gebe und es richtig schreiben will. Ich will, dass keiner traurig ist wegen mir.“

… “Was ist DIR denn wichtig beim Schreiben?“

– „Die Herzchen auf dem kleinen i.“

Nachwort

Die Herzchen auf dem kleinen i fungieren bei Lara wie ein Türöffner. Sie sind ihr Schlüssel, der ihr Nervensystem beruhigt. Der es schafft sie überhaupt in den Zustand kommen zu lassen aus innerer Ruhe heraus im Schreibprozess ihre zahlreichen Ressourcen auszuschöpfen und auch zu zeigen.
Lara hat viele Ressourcen, nur leider findet sie diese im ganzen Chaos in ihr drin manchmal nicht wieder. Zu viele Gedanken über ungeliebte Konsequenzen treiben Unfug in ihr und versperren ihr den Blick auf das, was eigentlich gerade dran ist. Seitdem Lara es sich wieder rausnimmt, das Herzchen aufs kleine i zu malen, gelingt es ihr deutlich besser sich zu fokussieren.
Nun sind Herzchen auf dem i kein Allheilmittel für jeden. Jeder Mensch hat seinen persönlichen Schlüssel, der ihn ein Stück mehr in den Zustand bringt sich auf eine gestellte Aufgabe einzulassen, sich innerlich zu sortieren und das Tun ein wenig mehr von innen heraus zu lenken. Eine aufregende Entdeckungsreise – jeden Tag aufs Neue…

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