Mein Strukturmensch

Mein Strukturmensch

Ich sitze in einem wunderschönen Berliner Stadthotel und lasse mich in die Kissen meines Kingsize-Bettes fallen. „Wunderbar“, denke ich erleichtert. „So kann sich Urlaub mit zwei kleinen Kindern also auch anfühlen. Kurz denke ich zurück an den Packstress des Vorabends und des Morgens. Seit dem letzten Sommerurlaub besitze ich eine Checkliste, die mich auf meinem Handy nur noch abhaken lässt, was ich bereits eingepackt habe und was noch fehlt. Alles sehr optimiert und auf Effizienz getrimmt. Die Sorge, genau das Wichtigste für den unvorhersehbaren Urlaubsmoment zu Hause zu vergessen, dominiert. Erst, wenn ich im Auto sitze und den letzten Haken setze und die letzte Notiz auf meinem Bildschirm vergraut, steige ich in das Auto und fahre los – Ach, hatte ich die Gartentür wirklich abgeschlossen und den Schlüssel abgezogen?

Nun liege ich hier und merke wie jegliche feste Struktur von mir abfällt. Was die nächsten Tage bringen werden? – Keine Ahnung. Wir haben uns dieses Mal ganz absichtlich keinerlei Fixpunkte gesetzt und als ich das erste Quietschen meiner Kinder im Nebenzimmer höre merke ich, wie fragwürdig ich das auch gerade irgendwie finde. So fern jedes Planes wie die nächsten 5 Tage in der Großstadt gefüllt werden können, sitze ich hier und starre erschöpft von den letzten Wochen vor den Osterferien vor mich hin… Mein Strukturmensch in mir drin rät zur Vorsicht. „Es braucht doch einen Plan. Vor allem, wenn man sich in seiner äußeren Umgebung nicht auskennt.“

Meinen Töchter war es beim Packen des Reisegepäcks vor allem wichtig, dass ihre Bücher und Bastelsachen einen sicheren Platz finden. Und so ist auch das erste was passiert, dass sie ihre leeren Zettel, Stifte, Kleber und Malunterlagen (zum Glück auch diese!) auf dem Hotelboden ausbreiten und wie wild anfangen zu basteln und zu malen. „Oh je… – Hoffentlich bleibt der Kleber auch auf der Malunterlage.“, denke ich und versuche schnell auszuloten wie das weitere Basteln sicher gestaltet werden kann. Mein Strukturmensch sucht nach Strohhalmen, um möglichst Herr der Lage zu bleiben. Meine Tochter stellt nach gut zehn Minuten fest, dass sie eindeutig zu wenig Papier mitgenommen hat. Alles was sie geplant hat und eingepackt hat ist für genau dieses gerade wichtige Bastelprojekt nicht ausreichend. Innerlich versuche ich mir gerade schon Sätze zurecht zu legen, um einen drohenden Wutausbruch im Zaum zu halten. Hotelwände sind ja auch so dünn…

Meine Tochter steht auf, schnappt sich den kleinen Schreibblock des Hotel-Merchandise und fängt an diese kleinen 7×7 cm Zettel zu einem großen DIN-A4-Blatt zusammenzukleben. „Weißt du Mama, ich kann mir doch auch einfach das, was ich brauche, machen, dann brauche ich nicht immer alles mitnehmen.“


Wie Recht sie hat. Da sitzt dieses kleine Kind auf dem Boden eines Berliner Hotelzimmers und erzählt mir genau das, was mein Strukturmensch in mir braucht, um sich auch mal kurz auszuruhen. Ich gehe zurück in mein Zimmer und schaue in meinen Koffer, in dem sich eindeutig nicht die Taschentücher finden lassen, die ich gerade brauchte und dachte eingepackt zu haben.

„Wo sind denn die Taschentücher hin, die ich eingepackt hatte?“, rede ich lauter vor mich hin. – Die brauchte ich gestern Abend. „Die liegen wohl noch im Zimmer zu Hause!“, schreit meine Tochter. Mein Strukturmensch trommelt in mir drin und meine Pulsfrequenz steigt in die Höhe. „Nimm doch einfach ein Klopapier. Kratzt, geht aber auch“, ruft meine Jüngste und schmunzelt.

Ich beschließe mich jetzt über diese patzige Antwort nicht aufzuregen. Denn: Recht hat sie!

An allen Ecken und Enden scheint die Welt doch gerade nicht mehr so rund zu laufen, wie wir mal dachten, dass sie läuft. Vielleicht lief sie für eine Zeit auch einfach ruhiger. In den letzten Jahren ist die weltweite Geschwindigkeit doch so in die Höhe geschnellt, dass ich mich manchmal frage, wer da noch hinterher kommen soll? Mein Wunsch an Struktur, an wiederkehrenden Mustern, an Halt in irgendwas, was meiner Kontrolle unterliegt, findet nicht erst seit Beginn der Pandemie kaum noch Befriedigung in mir. Ich habe das Gefühl mich pausenlos auf Neues einstellen zu müssen und das in einer Geschwindigkeit, die ich bis dahin nicht wahrgenommen habe, geschweige denn gewohnt sein konnte. Ich pendel mit meiner Aufmerksamkeit zwischen Notbetreuung im Kindergarten, wechselnden und angepassten Pandemiemaßnahmen in der Schule hin und her. Dazu kommen noch Kleinigkeiten, vermeidliche Nichtigkeiten, aber in der Summe auch zu deutlich, um sie zu ignorieren: den Einkauf erledigen, Lieferengpässe im Supermarkt galant und möglichst flexibel auszugleichen, Köchin sein, Chauffeur sein, Gärtnerin sein, Tochter sein, Mutter sein, Ehefrau und Freundin sein. Es scheint so, als ob es kaum noch schaffbar wäre – zumindest mit den Strukturen, die wir bisher als sicher und klar empfunden haben und vielleicht auch mit dem hohen, inneren Anspruch an sich selbst. So langsam komme ich an den Punkt, dass ich mich ernsthaft frage, ob es nicht sicherer wäre die meisten dieser festen Strukturen und Ansprüche auf Kontrolle aufzuweichen?

Was bleibt dann übrig? … Was bleibt, ist der Stoff, aus dem ich gemacht bin. Aus dem all das Alte und all das Neue ist, egal wie es sich transformiert und zeigen mag und egal wie viele kleine Hotelpapierblätter ich zusammen klebe, es kann daraus etwas entstehen, was ich nutzen kann. Vielleicht nicht genau so, wie ich dachte – aber so, dass mein Strukturmensch mitgehen kann und sich weiterhin eingeladen fühlt mein Leben so mitzugestalten, dass auch er sich hin und wieder ausruhen kann in dem vermeintlichen Chaos, dessen Sinn wir nur wertschöpfen müssen. Schau mal hin… genau jetzt!

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