Die Seiten des Perfektionismus

Die Seiten des Perfektionismus

– Irgendwann in den 90-er Jahren, Samstag Morgen –

Meine Freundin Anja überreicht mir eine für mich schon heilig anmutende CD-Rom mitsamt eines kleinen Zettels, der mir die große Welt der SIMS eröffnen sollte… Dieser Zettel beinhaltete einen ca. 20-stelligen Cheatcode, der mir ordentlich Geld liefern konnte, um meine Träume auf dem Bildschirm zu verwirklichen.

In diesem Spiel kann man mit unterschiedlichen Figuren und Möglichkeiten Welten erstellen und aufbauen. Menschen leben zusammen und alle diese Menschen haben Aufgaben an ihrem Lebensort.

Der Samstagmorgen verhielt sich ungefähr so:

Nach circa 4 Stunden intensiver Auseinandersetzung, inklusive Verlust von Hunger- und Durstgefühl, mit dem virtuellen Wohntraum dieser Computerfiguren und mehr als zehnmaligem Einsatz dieses Geldspendercodes, kamen auch meine Computerfiguren an ihre Grenzen… Sie fielen Reihenweise mit einem „zzz“ über ihren Köpfen um und mussten schlafen – in der Küche, im Flur, auf dem Gehweg.

Ich hatte sie komplett durch die virtuelle Traumlandschaft gescheucht, hatte zahlreiche Güter angeschafft, die nur von wenig Menschen gepflegt und verwaltet werden mussten. Meine Leute kamen nicht mehr hinterher und schliefen irgendwann nur noch, weil sie von allem so erschöpft waren…

… Es wollte in meinen Kopf nicht rein, dass man nicht einfach immer weiter machen kann. Ist es nicht allzu gegenwärtig in dieser Welt, dass man immer erst schlafen sollte, wenn man zumindest so ein Zwischengefühl von „fertig sein“ hat, wenn man was geschafft hat und sich zurück lehnen kann. Dass es mir in diesem Moment so virtuell entgleitet und ich diese Figuren nicht dazu bewegen konnte diese ganzen Konsumgüter zu unterhalten und sich selber dann noch zu pflegen, verwirrte mich mit meinem damaligen Weltbild total. Es verwirrte mich nachhaltig so sehr, dass ich das Spiel nicht mehr weiter spielen konnte. Mein Perfektionismus geriet damals – zum Glück – das erste Mal ins Wanken und ich spürte diese Ohnmacht es nicht schaffen zu können immer mehr zu machen, immer weiter zu gehen und gleichzeitig gut für mich selber zu sorgen. Die SIMS – Figuren zeigten es mir hier deutlich : Es ist einfach nicht möglich…

… Und trotzdem war mein Wunsch in mir drin, es doch irgendwie alles perfekt hinzubekommen, nicht plötzlich ausgelöscht… Mein Perfektionismus hat mich als Schülerin oft nicht abschalten und zur Ruhe kommen lassen… Er hat mich vor Klassenarbeiten nervös umher getrieben… Er hat mich morgens nichts essen lassen und er hat mich während der Klassenarbeit auch oft nicht klar denken lassen… Er suchte die Sicherheit in allem, was scheinbar das war, was mir gut tun sollte: Gute Noten finden die Lehrer toll und die Eltern auch – Keiner von ihnen braucht sich Sorgen um mich machen, wenn doch die Noten passen. Es läuft ja alles. – Ich brauche mich in Folge dessen auch selber nicht in Frage stellen. Ein aufgeräumtes Zimmer zeigt ja die scheinbare innere Aufgeräumtheit – Was hatte ich für Ideen im Kopf, was mein Leben in dieser Welt sicherer macht: Berechenbarkeit, Struktur, Leistung, Funktionieren und Ordnung war mein perfektionistischer Überlebenstrieb, um durch eine Zeit zu kommen, in der ich spüren musste, dass viele Menschen um mich herum meinten besser zu wissen, was für mich gut sei. Vielleicht fühlte ich mich in dieser Zeit selber wie eine SIMS-Figur, der zu viele Aufgaben zugeordnet wurden – Die gelernt hat diese Aufgaben auch auszuführen um in dieser Welt einen sicheren Platz zu haben. Die gelernt hat, dass Rebellion nicht verhindert, dass man sich diesem System anpassen muss, wenn man sicher durch kommen möchte…

Ich konnte es mir damals schon nicht angucken: Diese virtuellen Figuren, die hin und her pendeln zwischen ON und OFF – Arbeiten und Schlafen … Mit Recht wird der Ruf nach Work-Life-Balance immer größer… Aber produzieren wir dann nicht noch schärfere Pole? Nicht noch einen breiten Zwischenraum, weil wir es versuchen noch klarer zu trennen? Kann es nicht einen Weg geben, dass es uns gelingt Schüler/Arbeitnehmer zu sein in einem System, das mich nicht zum krassen WORK-Pol schickt, sodass ich das Gefühl habe mich völlig von mir und meinen Bedürfnissen abtrennen zu müssen… und meine einzige Chance eigentlich ist, immer besser darin zu werden meine Aufgaben und mein Umfeld so perfekt und damit für mich in diesem System so sicher wie nur irgendwie möglich zu gestalten?

Mein Perfektionismus schützte mich vor der Auseinandersetzung mit Autoritäten. Ich wusste, dass ich sicher bin, solange ich die gestellten Aufgaben erledige… Mein Perfektionismus konnte das schützen, was mein eigentliches Potenzial war. Mein bewusster Perfektionismus hat es geschafft, dass ich innerlich spürte nicht einverstanden zu sein mit all dem, was ich zu tun hatte, um durchzukommen. Aber er hat mir das Wissen geschenkt, dass ich es anders machen kann, wenn der Raum dazu irgendwann da ist… Ich war nicht verführt vom System. Ich war angepasst mit einer klaren Idee davon, dass ich damit nicht einverstanden bin…

… und heute kann ich dieses Nicht-einverstanden-sein Stück für Stück mehr leben und noch immer spüre ich meinen Perfektionismus, der mich manchmal völlig erschöpft ins Bett fallen lässt und ich wieder das Gefühl habe einer dieser SIMS-Figuren zu sein, die heute eindeutig zu viel auf dem Zettel hatte… Mein Überlebensmuster habe ich immerhin lange pflegen müssen… Immerhin schaffe ich noch den Weg ins Bett und schlafe nicht direkt auf dem Küchenboden… Wie schön es doch ist keine SIMS-Figur zu sein!?

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