Minirekorde

Minirekorde

…Meine Rekorde sind die kleinen, die Minirekorde…

Ich lausche einer Geschichte, die mich tief berührt und halte bei diesen Worten inne. Es scheint mir kaum noch möglich den nächsten Worten und Sätzen zu lauschen. Sie ziehen einfach an mir vorbei und ich beginne seit langer Zeit mal wieder nach und in mir zu lauschen…

Habe ich mich eigentlich jemals mit Minirekorden zufrieden gegeben? War es mir jemals möglich meinen Fokus auf die kleinen Errungenschaften, die scheinbar so kleinen und fast nebensächlichen Minimomente zu richten? Bestimmt gelang es mir schon des Öfteren, aber ich spüre sie kaum noch so leibhaftig in mir.

Vor allem spürt man doch ganz bewusst die scheinbar so riesigen Momente und Meilensteine des Erwachsenwerdens: Die Einschulung, das bestandene Abitur, der erste Tag des neuen Jobs oder das erste Date… und ohne diese Momente in ihrer Tragweite und ihrem Wert schmälern zu wollen, sitze ich gerade hier und frage mich, wie oft in meinem Leben ich eigentlich täglich über meinen Schatten springe und wunderbar wertvolle Minimomente erfahre? Wie oft es mir eigentlich täglich gelingt mich wieder einzulassen, wo die Kluft zwischen mir und dem anderen sich scheinbar unüberwindbar angefühlt hat. Wo es mir gelingt aufzustehen, obwohl ich für kurze Zeit vergessen zu haben scheine, warum es sich lohnt auch an diesem Montagmorgen wieder um sechs Uhr, direkt nach dem Weckerklingeln, ins Bad zu gehen und dem neuen Tag zu begegnen…

Wie oft es mir schon gelungen ist, versöhnliche Worte in mir zu finden, wenn scheinbar das trennende und überwältigende Wort allzu groß im Raum stand? Wie oft es mir gelungen ist mich hinzustellen, da zu bleiben, meinen Mund aufzumachen und bewusst NEIN zu sagen, obwohl ich am liebsten weggerannt wäre? Wie oft es mir gelungen ist, mich nach einem langen Tag noch um mein spuckendes Kind zu kümmern und völlig entkräftet die Nacht mit wenig Schlaf und Kindergejammer zu meistern?… Wie oft es mir gelungen ist vor anderen zu weinen? – Mich verletzlich und traurig zu zeigen und zu sagen „Ja, ich habs gerade nicht im Griff und es fühlt sich gerade kurz so an, als ob es keinen Weg mehr gibt…“ – Und immer habe ich ihn doch gefunden „Den Weg raus, den Weg der mich weiter gehen lässt…“

Wie oft bin ich dabei über meine innere Grenze, meinen inneren Schatten gesprungen und egal, wie ich diese Hürde nennen will, so ist doch jeder kleine Schritt hinüber oder hinauf ein Schritt, der mich MEINEN neuen, klitzekleinen Rekord erleben lässt.

„Meine Rekorde sind die kleinen, die Minirekorde…“ – Sind die nicht das was dieses Leben ausmacht? Dass wir uns wieder Einlassen können auf das Leben, auf das Außen, auf das was für uns nicht erreichbar scheint… Und entwickeln wir nicht daraus die Energie, die uns im Inneren die Stärke gibt weiterzugehen?

Rückblickend war mein Abitur zwar eine Etappe meines Lebens, aber dass mich mein Abitur überproportional hat wachsen lassen, stelle ich hier offen in Zweifel. Und doch werde ich immer noch manchmal gefragt wie mein Notendurchschnitt war…

Und dann stehe ich da und sage offen: 2,2… Und ich habe über ein Jahr lang mein Leben nur diesen Prüfungen gewidmet. So stark, dass sogar meine Eltern mich am Wochenende aus meinem Zimmer ziehen mussten, damit ich in der Zeit auch noch was anderes in meinem Leben, als meine Bücher und Hefte sah. Also sitze ich gerade hier und frage mich wie viel Wert es für mich ganz persönlich eigentlich hat, dieses Abiturzeugnis? Damals: Die Welt. Heute: Ich hätte auch mit nem guten Realschulabschluss meinen Weg gemacht. So relativiert sich gerade meine Sicht auf diese Welt und die scheinbaren so wichtigen Steps und Etappen… Vielleicht sind es die Minirekorde, denen wir deutlich mehr Raum in unserem Leben und deutlich mehr Wert zukommen lassen sollten?!

Und vielleicht fragen wir uns dann öfter mal : „… Und wo hast du in den letzten Monaten weitergemacht, obwohl du dachtest, dass der Weg nicht mehr weiter geht?“… und vielleicht können wir uns dann einfach gemeinsam freuen, dass wir es morgens geschafft haben aufzustehen, obwohl wir kurz dachten, dass es sich an diesem Tag nicht lohnen würde… und vielleicht können wir uns eine zeitlang auch einfach nur gut damit fühlen, dass unsere Energie genau dafür noch reicht … und vielleicht können wir es gemeinsam wertschätzen, dass es uns gelingt weiter zu machen an Tagen, an denen wir vor überwältigender Müdigkeit gerne nur im Bett liegen bleiben wollen oder unsere Laune wegen bevorstehender To Dos schon direkt nach dem Aufstehen in den Keller sinkt… und vielleicht gelingt es uns, es uns auch mal in dieser Zeit gemütlich gut gehen zu lassen und all diese Minirekorde wertzuschätzen und genau so ein Gewicht zu geben wie dem Abiturzeugnis, dem Tag der Einschulung, dem Tag der ersten Ausbildungsstelle oder dem ersten Date?!

Kommentare sind geschlossen.