Im Auge des Sturms

Im Auge des Sturms

Vor Kurzem wurde ich nach einem anstrengenden und vollen Tag gefragt, welchen Begriff ich mit dem Leben verbinde? Welche Qualität? Welcher spontane Impuls sich zeigt, wenn ich ans Leben, an den Begriff “Leben” denke…

… Meinen spontanen Impuls unterdrückte ich sofort, als er sich auch nur kurz regte. Ich bewertete ihn sofort schamvoll und stellte ihn innerlich in eine kleine dunkle Ecke… Ich schaltete jedoch schnell vom Wahrnehmen meiner Emotionen und meines Körpers weg und ging in den Kopf als ich sah, was für Begriffe die anderen Teilnehmer schrieben: Leidenschaft, Feuer, Freude, Glück, Kreativität, Liebe… Ich konnte es förmlich spüren, wie mein Überlebenstrieb schnell eine passende, sozialverträgliche und vermeintlich sichere Antwort bieten wollte… Ich sagte sowas wie Freiheit und Ruhe in der Natur… Spürte, dass auch in diesen Worten ein großes Stück passgenaue Wahrheit lag und doch beschrieben diese Wörter keinesfalls meine ganze Wahrheit… Es gab mehr als nur diesen so positiv besetzten Aspekt… Nachdem die Situation vorüber war, luschte ich vorsichtig in meine kleine, innere, dunkle Ecke und da lag er: Mein erster Impuls. Ganz groß stand da zum Fazit des heutigen Tages „Durchhalten“. Ich spürte leichte Übelkeit und vor allem auch viel Traurigkeit. Mache ich eigentlich was falsch? Dass alle anderen Menschen scheinbar mit Leichtigkeit Freude in ihrem Leben spürten und sich bei mir gerade in so einer Situation das Wort „Durchhalten“ zeigt? Mein inneres Bewertungsbarometer rotierte und kam kaum zum Stillstand… Noch ein paar Tage lang begleitete mich immer wieder dieser Anflug von Scham und Missmut diesem Wort, diesem Zustand, diesem damit verbundenen gefühlten, inneren Stillstand…

… Nur sieben Tage später… Eine kleine Gruppe von Frauen, von gestandenen Müttern. Die gleiche Frage, die gleiche Idee: Was verbindest du mit dem Leben? – Meine innere Klarheit reichte an diesem Tag. Meine innere Klarheit schob die Masken zur Seite und in dieser Gruppe von Frauen gab es diese Sicherheit, dass es einfach so sein darf und ich einfach so sein darf… „Ich verbinde mit dem Leben derzeit all zu oft „Durchhalten“… Und ich weiß nicht mal, wofür ich durchhalte… Ich weiß nur irgendwo in mir drin, dass es sich lohnt und dass in diesem Durchhalten eine große Kraft liegt. Manchmal halte ich für meine Familie durch: Für meine Kinder und meinen eigenen Entwicklungsprozess im Leben, manchmal funktioniere ich auch einfach nur so vor mich hin…

… und dann gibt es diese magischen Momente, in denen ich genau durch diese Verletzbarkeit, mit der ich mich zeige und sage, dass mein Leben nicht nur permanenter Genuss, Freude oder Glück ist, sondern eben auch Traurigkeit, Funktionieren, Wut und Sehnsucht, die es ermöglichen wieder eine Verbindung zu spüren in diese wunderbar aufregende Welt. Diese Welt, die sich als so in Aufruhr und unsicher präsentiert und gleichzeitig so voller Möglichkeiten zum Wandel ist, dass wir es alle (noch) nicht fassen können. In dieser Zeit der Unsicherheit genügt es gerade vielleicht auch einfach nur zu wissen, dass es uns damit nicht alleine so geht, sondern dass wir es miteinander teilen dürfen. Dass wir nicht alle nur glücklich sein können und müssen, nicht alle nur ausgeglichen und geduldig mit uns und der Welt herum laufen, sondern dass wir auch zweifeln, dass wir wütend und traurig sind, dass wir es uns alle wieder gegenseitig ein Stückchen mehr erlauben unser Durchhalten in die Welt zu tragen, ohne den Blick auf eine noch nicht sichtbare zukünftige Lösung zu verlieren. Manchmal hilft es einfach zu spüren, dass das einzige, was im Alltag gerade tiefe Freude bereitet, das täglich Gucken von MONK ist, um überhaupt mal kurz wieder zur Ruhe und zur inneren Verbundenheit zu kommen. „Kurz mal gedanklich weg“ aus diesem immer schneller drehenden Sturm, der so viel verschluckt… Im Auge des Sturms ist auch Ruhe… Da ist scheinbar magisch ein begrenzter Raum, der friedlich scheint… Also wo ist unser ganz persönlicher Raum, der um eine kurze Zeit Frieden schenkt und uns hindert immer in diesen Sturm der Unsicherheit und der Angst mit zu stürmen und uns selber verlieren? – Wo sind für dich diese Minimomente, die dieses kleine Sturmauge einladen und uns neu orientieren lassen? Manchmal gehen sie nur allzu schnell unter… Warum nicht bewusst genießen und einladen? Welche Anker erinnern dich daran, dass du dich im Sturm befindest und gerade nur durchhältst? Welche Anker erinnern dich daran, dass du genau jetzt achtsam dein Sturmauge voller Ruhe und Frieden aufsuchen kannst?

Genau an diesem Abend in der Runde dieser Mütter war es für mich das Teilen dieser Scham, das so befreiende Lachen beim Rausfinden, dass wir scheinbar so peinlich ähnliche Ressourcen im Sturmauge haben. Dass wir es als tief heilsam empfinden, dass wir nicht alleine sind mit unserem Durchhalten, dass wir uns verbunden fühlen dürfen in unserem Sturmauge und wir weder dort noch im Sturm alleine sind. Verbunden – nicht nur mit uns selbst, sondern auch mit so wundervoll anderen Menschen, denen es genau so geht wie mir gerade…

Es braucht meinen Mut diese schambehafteten Masken nieder zu legen und mich verletzbar in dieser Welt zu zeigen und es braucht eine Dosierung… Wo und wann kann ich ein Stück weit mehr ich selbst sein, ohne eine nicht mehr mir gerecht werdende Rolle zu spielen… Es braucht auch deinen Mut und deine Verletzbarkeit und dein Suchen nach dem ruhigen Auge des Sturms, damit wir weiter aktiv gestalten können in dieser Welt und nach diesen kleinen Wandelmomenten Ausschau halten, die uns und dieser Welt helfen weiter zu machen und uns nicht in Angst und Unsicherheit völlig zu verlieren.

Kommentare sind geschlossen.