Der Sprung…

Der Sprung…

Lotte stand auf dem obersten Springturm im Freibad ihres kleinen Wohnortes. Verschwommen konnte sie dort oben stehend und nach unten blickend nur die flackernden Wasserspiegelungen im Sonnenlicht ihr grell entgegen scheinend wahrnehmen. Silouettenhaft zeichneten sich die Bewegungen von umher schwimmenden Menschen im Wasser und umher rennenden Menschen auf dem gepflasterten Steinweg neben dem Becken ab. Eines, das erkannte sie schnell, war das Bild von diesem schicken Bikini, den sie sich nur allzu gerne selber angezogen hätte. Ella aus dem Jahrgang über ihr trägt ihn mit einem breiten Grinsen, lautem Lachen und mit ihren Freundinnen gackernd auf der Bank direkt neben dem Sprungturm. Zu gerne wäre Lotte ein bisschen mehr wie Ella: Selbstbewusst, schön, beliebt, unauffällig wo es sein muss und auffällig wo sie es sein will… Ella hatte ja so vieles, was Lotte so gerne gehabt hätte…

… und Lotte, Lotte war die, die gerade den Sprungturm rückwärts wieder herunter kletterte und so schnell wie möglich versuchte allen Blicken auszuweichen, die ihr gerade entgegen geworfen wurden… Blicke, die sie förmlich durchlöcherten…

…Lange blieben diese Löcher… Es war, als ob jedes dieser Löcher, bewegte man sich nur einen Schritt zu weit auf den Abgrund zu, Lotte wieder ein bisschen mehr in Scham verschlingen würden. Zu traurig, zu beängstigend und zu verletzend war dieses Gefühl gewesen alle Blicke auf sich sitzend die Treppenstufen dieses Springturms herunter zu klettern und mit jedem Schritt Richtung Erdboden förmlich raus zu schreien „Ich schaff es nicht!“…

Leider vergaß Lotte in diesem Moment etwas ganz Entscheidendes: „Ich schaff es nicht!…Im Moment!“ … Zu groß war die Enttäuschung über die eigene Unzulänglichkeit, ihrem eigenen Bild von sich nicht entsprechen zu können und zu groß der Wunsch dieses eklige, schamvolle und beengende Gefühl nie wieder mehr spüren zu müssen.

Lotte entschied sich von nun an einen großen inneren Fahrplan anzulegen: „Ich bin einfach nicht mutig!“ wurde für diesen Fahrplan zu ihrem Leitsatz…

Lotte sprang nicht mehr vom Springturm, Lotte traute sich nicht im Schultheater eine kleine Nebenrolle zu übernehmen. Es reichte nur noch für die Requisite – Im Schatten der Hauptdarsteller. Lotte traute sich irgendwann nicht mal mehr etwas anzuziehen, was vielleicht nur ihrem etwas außergewöhnlichen Geschmack entsprach, nur damit sie nicht mehr auffiel im Sammelgrau der Menge… Lottes sehnlichster Wunsch war es das zu sein, was alle normal nannten und ein wenig und manchmal auch ein bisschen mehr unter allen anderen Menschen zu verschwinden….

Lotte war gut darin. Lotte gelang es bisweilen sogar so gut, dass es ihr selber kaum noch auffiel wie blass sie eigentlich geworden war, wie unsichtbar. Immer wieder, im Kleinen, im Heimlichen da war es manchmal noch: Kreativ zu malen, in der Dusche ihr Lieblingslied ganz schief und schräg zu singen und auch beim Schreiben von Gedichten entfloh Lotte ganz heimlich dem Unsichtbar sein. Doch ihr Fahrplan für die Welt da draußen wuchs: Es gesellten sich noch andere Strukturen dazu. Lotte war zum Beispiel der tiefsten Überzeugung, dass sie niemals einen gut bezahlten Beruf erlangen würde und auch das entspannte Fahren in den Urlaub wäre für sie nicht möglich: „Ich bin einfach zu schlecht und genüge nicht.“

Und dann kam der Tag, an dem Lotte durch den Wald ging… Lotte war nun 16… Lotte war kaum noch zu erkennen in diesem Wald voller Bäumen. Sie konnte sich verbiegen, sie konnte sich tarnen, sie konnte sich in Windeseile ducken und so funktionierte ihr Fahrplan, wenngleich er sich auch manchmal ein wenig eng anfühlte…

…Lotte ging durch den Wald und nahm wahr, dass die Förster viel Holz gefällt haben. Dass da viel Raum entstanden war. Auf ein mal war da Platz und eine kleine Lichtung reihte sich an die nächste. Lotte traute sich kaum aus dem Schatten der Bäume zu treten.

Ihr Blick wanderte suchend nach dem nächsten Orientierungspunkt umher: Sie fühlte sich so angezogen von einem Felsvorsprung… Als sie sich umschaute und sah, dass sich kein anderer Beobachter in ihrem Umkreis befand lief sie auf diesen Felsvorsprung zu. Sie kletterte fast müßig die kleinen Felsensteine hoch, die sich jedoch sicher verwinkelt auftürmten… Kurz überlegte sie, ob sie umdrehen und auf den nur altbekannten Boden zurück klettern sollte. Doch das Licht an der Spitze des kleinen Vorsprungs glitzerte ihr auf motivierende Weise entgegen und Lotte schaute für kurze Zeit nur nach vorne ins glitzernde Unbekannte. Sie spürte ihr Vertrauen und umdrehen schien plötzlich keine Option mehr.

Als sie ihren Fuß auf das kleine Plateau stellte, das nicht mal so groß wie ihr Badehandtuch war, schien das wärmende Sonnenlicht durch die noch vorhandenen Bäume auf sie hinab. Es schien so, als ob nur sie hier im Licht stehe und es war ein seltsam schönes Gefühl so anders und sichtbar zu sein… Die Vögel um sie herum zwitscherten und das Grün des saftig, moosigen Waldbodens schien so tief lebendig. Lotte realisierte, dass sie bestimmt 3 Meter über dem Boden auf diesem Felsen stand. Ihre Beine wurden wackelig. Sie drehte sich um und schaute auf den steinigen Felsen, den sie gerade hoch geklettert war und danach wieder auf den Abgrund. Es schillerte kein Wasser… die Tautropfen auf dem Moos glitzerten… Lotte atmete tief durch, schloss die Augen und sprang…

… Für keinen anderen Menschen der Welt, für keinen inneren Fahrplan, für keine Struktur, kein Funktionieren und kein Hamsterrad. Lotte sprang und fiel nur für sich… Lotte sprengte ihre Grenzen, ihre Muster, ihre eigene Vorstellung von alle dem was sie ausmachen und auf keinen Fall ausmachen durfte. Lotte sprang und fiel und landete sicher im feuchten, weichen, sie abfedernden Waldboden….


… Ein kleiner Nachsatz: So oder so ähnlich begegnen mir in meiner Praxis Menschen mit ihren Geschichten von inneren Glaubenssätzen, die so schwer auf Ihnen lasten, dass sich diese kaum noch aus eigener Kraft verrücken lassen können. Von inneren Überzeugungen, die wie ein riesiger Stein mitten im Weg des Lebens liegen und um die es irgendwann kein Weg mehr drum herum zu geben scheint. Der Raum für das eigene Wirken fühlt sich irgendwann verschwindend klein und eng an und was das Auffälligste daran ist: Es sind vor allem auch die Eltern, die diese Glaubenssätze mitbringen und nicht ausschließlich ihre Kinder. Irgendwann entdecken sie mit vollem Bewusstsein diese inneren Überzeugungssätze und finden Wege sich ihnen wieder liebevoll anzunähern… Seien wir dabei alle liebevoll mit uns selbst…

Wie viel Energie mag darin stecken, wenn wir uns alle immer mehr Lichtungen schaffen, immer mehr Zwischenräume und Freiheit, um uns selber zu überraschen und uns trauen uns von unseren Glaubenssätzen ein Stück abzurücken, sie beobachtend zu betrachten und auch plötzlich eine ganz andere Qualität in ihnen entdecken... Und was würde es erst unseren Kindern schenken, wenn sie Zeuge davon sein dürften zu spüren was für eine ENTwicklung es ist, wenn es solche Glitzermomente bei Mama und Papa gibt? Das Leben ist ein ewiger Wandlungsprozess… auch und vielleicht vor allem in unserem Inneren – Ein bisschen Magic, oder?…

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