„Keine Ahnung!…“

„Keine Ahnung!…“

„Immer gilt es, die Fehler herauszufinden, zu bedenken, zu besprechen und nach Möglichkeit auszumerzen.“

Beim Lesen huscht mir gestern Abend dieser Satz über den Weg und ich grübel vor dem Einschlafen so vor mich hin. Er beschäftigt mich. Er berührt mich nicht nur persönlich, weil auch ich mich diesem Inhalt dieses Satzes vertraut fühle. Ich spüre, dass die Intensität und das Gewicht dieses Satzes gesamtgesellschaftlich immer weiter zunimmt. Es erdrückt uns fast… Es scheint quasi wie ein inneres Dogma, mit dem eine Vielzahl der Kinder, denen ich begegnen darf, herumlaufen. Wie schwer sie zu schleppen haben, denke ich mir oft. Wie schwer dieser Glaubenssatz auf ihren Schultern lastet. Manchmal ist es ihnen sogar körperlich anzusehen: Die Schultern hängen tief, der Körper verkrampft sich in diversen Positionen. Ich will diesen jungen Menschen, die eigentlich voller Träume und mit dem Blick für Wunder durch die Welt gehen sollten, jedes Mal nur liebevoll in den Arm nehmen, um ihnen ins Ohr zu flüstern: „Du bist so wertvoll und verdienst die ganze Liebe dieser Welt, auch wenn du Fehler hast, wenn du scheiterst, wenn du hinfällst, wenn du deine Erwartungen nicht erfüllst, wenn du die Erwartungen anderer nicht erfüllst… all das macht dich nicht schlechter oder gar weniger liebenswürdig!“ – Ich erlebe Kinder, die in ein Vermeidungsverhalten springen und versuchen alles zu tun, um ihre Grenzen zu umschiffen, in der Angst sonst dazustehen und den Blick auf ihre „Fehler“ freizugeben. Ich erkenne Kinder, die dann nach vorne preschen und die Konfrontation suchen wollen, um aus der Situation zu fliehen, und manche, die zwischen beidem hin und her wechseln.

Es erschüttert mich wie schon heranwachsende Menschen, aus welchen der diversesten und vielfältigsten Gründen auch immer, von sich selber glauben nicht liebenswürdig zu sein, nicht zu genügen, sich dem Gefühl des Scheiterns tief vertraut zu fühlen und sich dadurch extreme innere Glaubenssätze entwickeln, die eine Verbindung zu den eigenen, inneren Kraftquellen abschneiden und Stück für Stück unterbinden. Die Selbstbestätigung und Definition gelingt dann irgendwann nur noch über die Rückkopplung im Außen. Riesig sind dann die Augen, mit denen mich diese Kinder anschauen, in der Hoffnung endlich zu erkennen, welche Antwort ich von Ihnen hören will.

Spannend, welches Talent sich in diesen Kindern ausbildet: Sie sind Meister im Aufspüren von gewünschten, nicht aus Ihnen kommenden, Lösungen im Außen. Sie erkennen häufig in Windeseile, was das Gegenüber vermeidlich hören möchte. Und sollte das nicht passieren, erntet man ein „Keine Ahnung“. Oft habe ich mich gefragt, was hinter dieser kurzen Floskel stecken mag. Ein „Lass mich in Ruhe. Ich will nicht drüber nachdenken!“, ein „Was willst du von mir?“, ein „Ich bin verwirrt!“, ein „Sag du es mir doch. Es wissen sowieso immer alle anderen besser!“… Vielleicht auch ein Mix aus allem!? Genau an diesem Punkt freue ich mich jedes Mal, wenn es weitergeht und nicht bei „Kein Ahnung“ stehen bleibt.

Dieses „Keine Ahnung“ ist jedes Mal wie eine Düne, die es zu erklimmen gilt. Ich stelle es mir ein bisschen vor wie die Tür zum Reich der inneren Schätze. Denn was hinter dieser Düne wartet, ist das große, weite Meer, das so viel Schätze in sich birgt und mit einem Blick nicht ansatzweise zu begreifen und zu erschöpfen ist. Hinter dieser Düne wartet eine Welt, die viele Menschen schon lange nicht mehr betreten haben, eine Welt, die Pippi Langstrumpf uns schenkte, eine Welt, die es schafft Energie und Selbstverbundenheit aus sich heraus zu schöpfen. In dieser Welt sind all diese Ressourcen, die es uns ermöglichen ES zu wissen und AHNUNG zu haben. Und vor allem, ist es eine Welt, mit der es möglich ist „Fehler“ oder „Nichtgeglücktes“ einzuordnen, zu sortieren, zu relativieren und mit ihnen in Frieden zu leben.

Es klingt so simpel, so banal, aber es macht einen Unterschied, ob ich dauerhaft meinen Blick auf meine Fehler lenke, ob ich mir ständig vor Augen führe, wie schlecht meine Rechtschreibung ist, wie viel Fehler ich wieder in die Matheaufgabe gesetzt habe, wie ich immer wieder durcheinander komme beim Englischvokabeln lernen, oder ich spüre, dass ich auch soviel mehr bin als das. Dass ich eben auch eine Welt hinter der Düne leben kann, dass ich auch das bin. Dass es ein beinahe unerschöpflich weites Meer an Talenten, Fähigkeiten, Schätzen, und Ressourcen gibt, die es mir ermöglichen meine Perspektive zu wechseln, die es schaffen einen Gegenpol zu bilden. Mit diesen Schätzen gelingt es mir meine Fehler auch manchmal Fehler sein zu lassen und mich auch mit Ihnen und vielleicht auch gerade wegen Ihnen wertvoll und aufgehoben in dieser Welt zu fühlen. Und oft ändern sich dann Themen oder wandeln sich Grenzen auch von ganz alleine, weil die Aufmerksamkeit eine andere ist und sich neue Räume öffnen. Es berührt mich zutiefst, wenn ein Kind aus einer Lerntherapieeinheit heraus geht und die neu entdeckte und wertgeschätzte Ressource mit nach Hause nimmt – leuchtende Augen, Leichtigkeit, Bewegungsenergie, Lächeln, innere Ruhe. Und es macht nicht die „Größe“ des Schatzes aus. Auch vermeintlich „kleine und unscheinbare“ Ressourcen sind Puzzlestücke des großen Ganzen. „Ich kann gut backen.“ ist dabei genau so wertvoll wie „Ich habe es geschafft eine DIN-A4-Seite am Stück zu lesen.“ Einzig und allein das Kind hat DIE AHNUNG und weiß, welcher Schatz gerade jetzt gehoben werden will, und manchmal sind es sogar zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechszehn…

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