… schon ewig so
„Mama, es macht so viel Spaß!“ – Mit großer Freude springt meine kleine Tochter an der dänischen Nordseeküste entlang. Das Wasser ist ruhig, nur kleine Wellen kommen an den Strand…“Es ist ein großer See!“, sagt sie überzeugt…. – Naja…sehr groß, ja….
…Papa und unsere ältere Tochter laufen zehn Meter vor mir und unserer jüngeren Tochter durch die laue Brandung. Wir spazieren fröhlich hinterher. Und dann bemerke ich in welchem Rhythmus sie sich beginnt fortzubewegen. Es wirkt angestrengt und doch für eine Weile voller Spaß. „Ich springe hier auf Papas Fußabdrücke Mama! Schau mal!“ – Mit viel Kraft gelingt es ihr zumindest ansatzweise Papas Abdrücke zu treffen. „Boa, ist das anstrengend. Ich schaff es garnicht Mama.“ – Sie fängt nun an ihre eigenen Fußabdrücke zu machen und freut sich darüber sie genau so zu setzen, dass das auflaufende Meerwasser sie nicht erwischt…Irgendwann läuft sie nur noch im heißen, trockenen Sand und sie dreht wieder ein und springt auf Papas Fußabdrücken weiter, dann auch auf denen ihrer großen Schwester…Mit Leichtigkeit springt sie nun über den feuchten Sand…Mal auf Papas Fußspuren. Wenn der Abstand zu groß wird nutzt sie die ihrer großen Schwester und dann auch ihre ganz eigenen und es entsteht ein entspannter Rhythmus, in dem sie voller Freude über den Strand hüpft.
…Es berührt mich… Ich denke an meine Kindheit. Ich habe gerne rebelliert und schon bekannte, enge Wege habe ich schnell gemieden… Ich habe des Öfteren in Frage gestellt, habe so vor allem Autoritäten verunsichert und letztendlich wütend gemacht… Wer hinterfragt sich schon gerne, wenn es doch alles so immer funktioniert hat? – Vieles funktionierte für mich nicht, was andere als schon ewig so gegeben hinnahmen. Und dann gab es irgendwie dieses Gefühl, dass ich meine Energie nicht mehr aufbringen kann, um weiter zu hinterfragen, zu rebellieren und zu diskutieren und ich entschied mich erstmal die gegebenen Strukturen anzunehmen, um bei mir zu bleiben, auf den Fußabdrücken anderer (hinterher) zu laufen…Ich musste weiter springen, als ich manchmal konnte und genauso gut musste ich manchmal meine Energie verpuffen lassen, wo mehr drin gewesen wäre…
…Wie viel Potenzial geht unserer Welt eigentlich verloren, in dem wir unsere Kinder dazu bewegen den Weg einzuschlagen, der schon ewig so war und für viele in der Vergangenheit funktioniert hat? Wie viel Potenzial wird da untersdrückt, wie viel Energie, um Neues zu erschaffen, um manches freier zu machen?! Die Welt ändert sich eben. Jede Minute, jede Sekunde erfordert von uns etwas anders. Das Leben besteht aus permanenter Veränderung und Bewegung.- Ich rede nicht von besser oder schlechter. Den Überblick über diese beiden Pole habe ich losgelassen. Was ist gut? Was ist schlecht? – Keine Ahnung! . Ich rede aber von der Freiheit es sein zu lassen und das was schon ewig so war in ein wir gucken mal was und wie es heute gehen kann zu verwandeln. – Hin und her zu springen und mal die tiefen Fußabdrücke der Menschen, die den Lebensweg vor mir gegangen sind zu nehmen und manchmal eben auch bewusst daneben und so seinen eigenen, passenden und neuen Rhythmus zu finden.
… Ich sehe ein Kind in meiner Praxis sitzen, das unglaublich viel Potenzial in sich trägt und (doch) so gut gelernt hat die Fußabdrücke der anderen am Laufenden Band zu treffen. Dabei verausgabt es sich und weiß nur allzu oft gar nicht was es selber eigentlich will, was sie braucht und was sie in die Welt geben möchte. Ich sehe dieses Mädchen voller Freude, wenn es backt und die eigenen Kreationen mit zur Lerntherapie bringt. Sich freut an der Freude, die sie mir damit aufs Gesicht zaubert, weil es für einen Moment nicht um das geht, was alle anderen von ihr wollen, sondern was sie in ihrem ganzen Potenzial und Kreativität in diese Welt gibt. Es gibt in diesem Moment keine festgeschriebene Erwartung, kein so muss das sein, keine Fehlerquote, kein Leistungsmessen, sondern nur eine tiefer Wertschätzung für Aufmerksamkeit und Zuwendung… Es geht um Begegnung.
Manchmal entdecke ich mich als junge Erwachsene wieder in diesen Momenten, weil sie mich so berühren. Diese Art von Momenten sind die wertvollsten Momente meiner Schulzeit. Diese Momente, in denen ich gemerkt habe, dass dieser Lehrer, der den gesellschaftlichen Auftrag hat mich auf den Weg der tiefen, schon da seienden Fußabdrücke zu bringen, als ganzer Mensch wahrnimmt. Und mir damit die Möglichkeit gibt für einen kurzen Moment freier zu sein und mich in meiner Ganzheit gesehen zu fühlen.
Mich berührt noch heute der Moment, in dem ein Referendar in der 9. Klasse in der Deutschstunde plötzlich angefangen hat lebhaft mit uns Schülern über Sprache und ihre Wörter zu sprechen. Als es plötzlich um emotionalen Gehalt von Worten ging und ich mich wahrgenommen gefühlt habe, weil es plötzlich kein richtig und falsch mehr gab. Wir diskutierten und es konnten auch unterschiedliche Empfindungen und Wahrnehmungen nebeneinander gelten. Es ist ein so warmes Gefühl…
Es geht nicht nur mit vorgegebener Struktur und es geht nicht ausschließlich ohne diese. Es ist nicht gut oder schlecht und nicht richtig oder falsch… es ist alles zusammen und dadurch so simpel und so schwer….Paradox, oder? Vielleicht reicht ein Rahmen, der ein bisschen wie Knete ist und mitgeht, wo es sich lohnt mitzugehen ohne das große Ganze fallen zu lassen?!