Das Spiel mit der Angst
Es stößt mir derzeit so sehr auf: Das Geschäft mit der Angst. Wobei ich nicht mal nur den wirtschaftlichen Aspekt dieser Angstmacherei meine, die sich überall und vor allem in der Werbebranche tummelt. „Kaufe diese Zahnpasta, damit deine Zähne garantiert kein Karies bekommen! Wer weiß wie lange deine Zähne deinem hohen Zuckerkonsum sonst noch standhalten?“ oder „Kaufe unbedingt diesen neuen Bikini aus der aktuellen Kollektion, sonst wirst du Schwierigkeiten haben dich im Sommer am Strand schön zu fühlen!“
Natürlich arbeitet die Werbebranche größtenteils nicht mit Horrorbildern. Es wird das schöne Leben mit gesunden und strahlend weißen Zähnen gezeigt oder das Leben mit einer top Figur, sonnengebräunt am Strand bei wunderschönem Sonnenschein. All diese Bilder wecken in jedem von uns eine heimlich Sehnsucht, die wir uns doch nur ungern bewusst eingestehen möchten: Wir wollen unbekümmert sein, wollen dass es läuft, wollen all diese angenehmen Gefühle, die diese Bilder in uns wecken und das möglichst pausenlos und ohne Ausnahme. Es ist ja nur einen Klick entfernt und der Bikini ist im Internet bestellt, die Zahnpasta in den Einkaufskorb geworfen – und die Sorglosigkeit und Befriedigung der Angst gleich mit. In den letzten Tagen trieb dieses Bewusstsein für das Spiel mit der Angst immer mehr Chaos in mir hoch. Wut, Traurigkeit, Unverständnis… Wo bleibt denn unsere innere Stärke? Wo bleibt unser Wille und unser Mut anders zu sein, nicht mitzumachen, wo wächst und lebt da die eigene, innewohnende Kraft in uns selber? Was bewegt uns da mitzumachen und wo bekommen wir die Energie und den Mut her aus dieser Spirale immer mehr auszusteigen?
Bloß nicht über unser eigenes und selbst auferlegtes Lebenskonzept nachdenken! – „Bloß nicht den Zuckerkonsum verringern und den vermeidlichen Ferrari unter den Zahnpasten für 5 Euro nicht konsumieren und damit das unkalkulierbare Risiko eingehen seine Angst nicht zu befriedigen und seine Sorgen nicht im Zaum halten zu können. Was ist denn, wenn es auch andere Möglichkeiten gäbe als die Konzepte gegen die Angst und Sorge, die uns die Werbung so bereitwillig und scheinbar wohlwollend unter die Nase reibt? Welche Glaubenssätze entstehen da in mir als Konsument? Welcher Abhängigkeit unterwerfe ich mich da in Windeseile?
Besonders berührt und bewegt mich das Spiel mit der Angst über die Werbebranche hinaus, wenn es um Beratungen geht und Abhängigkeiten, die in ihr entstehen können. Wenn die Folge dieser allgemein verbreiteten Einstellung sichtbar wird. Ich spüre diese Angst auch in meiner Arbeit mit den Kindern, Eltern und Lehrern, die zu mir kommen. Es rufen bei mir Eltern an, die voller Angst und Sorge denken, dass nur noch ich ihnen helfen kann ihr Kind auf einen neuen Weg zu bringen. Ich spüre ihre Sorge, ich spüre Verzweiflung. Viele Eltern sind völlig aus ihrer eignen Mitte und greifen nach jedem Strohhalm, damit ihr Kind in der Schule wieder klar kommen kann und somit dem (am besten gymnasialen) Schulabschluss nichts mehr im Weg steht. Denn schließlich kann es ja ohne diesen Abschluss in der Welt nichts werden („Oder doch?“). „Hallo Panik!“ Ich spüre dieses feste Korsett, die Taktung im System, die feste, harte Struktur, die nicht erlaubt einen Moment inne zu halten und sich auf sich selber zu besinnen, um mit Selbstverbundenheit sicher durch dieses System zu navigieren. Der Lehrplan besagt exakt welchen fachlichen Stand die Schüler am Ende des jeweiligen Schuljahres erreicht haben müssen. Wann ist da noch Zeit für eine Pause? Für Reflexion? Für bei sich ankommen und innehalten? Wann soll ein Kind, das permanent in Sorge ist den aktuellen Lernstand womöglich nicht zu erreichen, schaffen aus seinem Inneren Motivation, Selbstverbundenheit, Selbstbewusstsein und Selbstliebe zu erreichen und zu leben? Es entsteht eine riesige Überforderung. „Übe am Besten auch noch in den Ferien, damit du einen guten Schulabschluss hast und du nicht auf der Straße leben musst!“ – Angst! Das Kind lässt sich irgendwann vermutlich aus purer Resignation und Kapitulation nur noch von außen steuern. Die eigene Meinung weicht einem allgemeinen „Keine Ahnung!“ bis wieder ein verpackter oder weit deutlicherer Hinweis von außen kommt.
Ich erwische mich selber dabei, dass ich in meiner Not im Alltag solche Ideen mit meinen Kindern benutze. „Iss jetzt bitte das Mittagessen auf, sonst bekommst du nachher keine Süßigkeiten mehr!“ rutscht mir auch raus. „Komm jetzt bitte zum Umziehen, sonst gehe ich runter und du musst das alleine machen.“ Versteckter Appell an die Angst und Steuerrungsversuch meinerseits oder klare und authentische Aussage mit angemessener Konsequenz?
„Vielleicht ein sehr schmaler Grad?!“, mögen wir jetzt denken. Das kann gut sein… Aber eines wird für mich immer deutlicher: Die Momente, in denen wir uns auch oder vor allem unbewusst durch die Angst in von außen gewünschte Richtungen treiben lassen, sind deutlich häufiger, als wir es uns bewusst machen. Was uns daraus hilft? – Vielleicht reicht bis zur Beantwortung dieser Frage erstmal die Reflexionsbereitschaft, der Fokus auf all diese kleinen Momente des Angstspiels und dem kurzen Innehalten und Kontaktieren des eignen Inneren, um sich immer weniger allein durchs Außen steuern zu lassen. Ich bin sicher, dass uns durch diese Selbstwirksamkeit ein großes Glück einnimmt. Ich spüre immer mehr, dass der größte Wunsch der Eltern, die den Weg zu mir finden ist, dass ihr Kind seinen Platz im Leben findet und glücklich wird. Ja, genau, SEINEN oder IHREN Platz und kein vorgefertigter und schon zurechtgemachter Platz, in den sich das Kind dann selber reinpressen darf. Manche Dinge dürfen sich zurecht ruckeln, nicht gleich von Beginn an passend sein. Manche Plätze müssen erst zum eigenen Platz geformt werden. Und wer weiß denn besser wie dieser Platz aussehen kann, als der Mensch, der sich darin finden möchte?! Eltern wünschen dem Kind eine glückliche Zukunft und stellen die Zufriedenheit ihres Kindes an oberster Stelle. Es ist für mich immer wieder ein rührender Moment in meiner Arbeit, wenn ich spüren darf welche Bewegung sich ausbreitet und welche innere Stärke und Verbundenheit sich zeigen kann, wenn wir gemeinsam diesen Raum entdecken und öffnen, in dem die Angst da sein darf und sich gleichzeitig etwas anderes, Neues sich zeigt und Gestalt annimmt. Eine Wahlmöglichkeit entsteht, indem der Mensch sich wieder handlungsfähig fühlt und sich ein Gltzern in den Augen zeigt. Aus dieser Position kann aus sich heraus nach kleinen Schritten und Unterstützungsmöglichkeiten geforscht werden und sich auf den Weg gemacht werden. Eine Balance zwischen Innen und Außen kann entstehen und Selbstwirksamkeit gelebt werden.
Vielleicht gelingt es uns zunehmend zu leben, dass die Angst bei uns ist, uns etwas aufzeigen darf, dass sich nur zu gerne verstecken will. Dass diese so unangenehmen Gefühle zu unserem Leben dazu gehören, dass sie uns dienen, dass sie wertvoll sind, dass sie in uns Kraft wecken – auch wenn man sich mit ihr zeitweise wie gelähmt fühlt. Vielleicht ist das erste Schritt, vielleicht ist es auch schon das ganze Geheimnis?!… Finden wir es heraus und machen uns auf die Reise…