Wie darf ich mich fühlen, Mama?

Wie darf ich mich fühlen, Mama?

Folgende Situation: Wir stehen im Flur, alle vier plus Hund. Zumindest der Hund hat sein Halsband schon um und wartet ungeduldig, dass es endlich raus gehen kann – raus in die Stadt… Wir wollen auf den Markt in Bremen, leckere Dinge einkaufen. So der Plan. Schon seit gut zehn Minuten stehe ich also so da und warte bis meine Töchter sich erbarmen endlich die passenden Kleidungsstücke auszuwählen und sich anzuziehen. Sagen wir mal so: Es scheint nicht ihre erste Priorität zu sein einfach schnell aus der Tür zu kommen. Es zieht sich wie Kaugummi. Ich warte, fange langsam an unter meiner dicken Herbstjacke im warmen Flur zu schwitzen. Unsere kleine 4-jährige Tochter fängt gerade an in Seelenruhe ihren Rucksack auszupacken, der noch mit Wechselkleidung bestückt ist. Sichtlich genervt packt sie all diesen anscheinend unnötigen Ballast aus und legt es unsanft auf die Holztreppe zum Obergeschoss. Ein T-Shirt fällt zu Boden. „Was ist das?“ frage ich sie leicht ungeduldig. – „Trotzdem der Boden zumindest an dieser Stelle gerade mal nicht dreckig ist, gehört saubere Wäsche nicht auf den Boden gelegt“, denke ich mir frustriert. Die ehrliche und entwaffnete Antwort meiner Tochter kommt prompt : „Das ist mein T-Shirt Mama!“ So weit so gut. Ich rüste mich mit tiefem Durchatmen, um noch eine Runde des Wartens hinter mich zu bringen. Da fährt sie fort:

„Das ziehe ich an, wenn die Erwachsenen mir erlauben, dass mir warm ist!“

PAUSE. Ich bin kurzzeitig verwirrt von so viel Essenz in einem Satz und über so viel Ehrlichkeit gepaart mich erfrischender Leichtigkeit.

Ist es wirklich so, dass wir Erwachsenen meinen über das Kälte- und Wärmeempfinden unserer Kinder bestimmen zu können oder gar zu müssen?
Hat es mit fehlender Aufsichtspflicht zu tun, wenn wir das Kind nicht bei Wind und Wetter so anziehen wie wir uns selber anziehen würden?
Ist immer davon auszugehen, dass das Kind genau das gleiche Temperaturgefühl hat wie wir es haben?
Wie wichtig ist es mir eigentlich, dass mein Kind ein sicheres Gefühl zu seinem eigenen Körper bekommt?
Sehe ich das als relevante und wichtige Kompetenz für sein späteres Leben oder möchte ich dem Kind das Gefühl geben, dass ich als Erwachsener besser über seine Körperempfindungen Bescheid weiß als es selber?

Ich rede nicht von Dialog, von Angeboten und Sätzen wie „Also mir ist gerade kalt und ich brauche eine dickere Jacke. Wie ist es bei dir?“ – Ich rede von Anweisungen und wenig respektvollen Sätzen wie „Mir ist kalt. Zieh dir eine warme Jacke an!“ – Allein dieser Satz ist für mich der Widerspruch in sich.

Die tiefe Verbindung zu seinem eigenen Körper ist auch fürs Lernen unendlich wichtig, denn es ermöglicht den eigenen Körper als sicheren Hafen wahrzunehmen. Allein bei Themen wie Prüfungsangst spielt der Körper gerne verrückt und vor allem in diesen Momenten ist es für Kinder so wichtig Strategien zur Hand zu haben, um sich wieder zu spüren und wahrzunehmen. Wie soll das gelingen, wenn das Kind seit der frühsten Kindheit spürt, dass es selber scheinbar nicht so gut über sich Bescheid weiß wie die Erwachsenen? – Das, was wir da erzeugen, ist eine Abhängigkeit im Außen, die unsere Kinder hemmen in ihr selbstständiges Bewegen in dieser Welt zu kommen. Die Verbindung zu sich selbst wird erschwert und somit das Suchen nach Orientierung im Außen immer weiter perfektioniert. Was bleibt ist Stück für Stück ein Verlust von Selbstwirksamkeit durch den Drang sich ständig im Außen rückzuversichern. Blicke von Bezugspersonen möglichst schnell zu deuten, Antworten und Wünsche im Blick der Kontaktpersonen abzulesen und schließlich „Keine Ahnung“ mehr von sich selber zu haben.

Zugegeben… Es mag vielleicht etwas hoch gegriffen sein die direkte Verbindung von einer deutlichen Empfehlung einer bestimmten Kleidung zum Verlust der Selbstwirksamkeit zu ziehen… Nur ist es nicht eine Frage der Grundhaltung, wie wir unserem Kind begegnen und wie wir es wahrnehmen und unsere Aufgabe im Bezug auf unsere Kinder?

Und so grinse ich sie an und freue mich, wie sie an diesem kalten Herbsttag barfuß in ihre Gummistiefel steigt und die Socken in ihren leeren Rucksack packt und ihn im Gehen auf ihren Rücken schwingt. Jetzt kann’s dann wohl losgehen…

3 Tage später: Ich merke, was die letzten drei Tage und die mit den oben stehenden Worten mit mir gemacht haben. Ich spüre noch ein mal mehr, dass es in dieser Frage nicht auf richtig und falsch ankommt. Es kommt viel mehr auf ein Bewusstsein im Umgang mit unseren Kindern und uns selber an. Es geht nicht um richtige oder falsche Grenzen oder Nichtgrenzen – nicht um ein „Ich mache es mit meinen Kindern aber besser als du“. Es geht um Klarheit, Selbstwirksamkeit und liebevolle Kommunikation mit mir als Elternteil mit meinem Kind, mit mir als Partner mit meinem Partner, mit mir als Ich mit mir.

Kommentare sind geschlossen.